𝐭𝐡𝐞 𝐟𝐢𝐫𝐬𝐭 𝐜𝐡𝐚𝐩𝐭𝐞𝐫

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...10 Jahre später ...

|| Phillipp ||

Stille. Kein Geräusch war zu hören.

Meine Gedanken waren im Gegensatz zu meinem Umfeld so laut wie die Raketen und Böller an Silvester. Sie wollen einfach nicht still sein und bescherten mir wie so oft eine schlaflose Nacht.

Unruhig drehte ich mich auf die Seite und starrte die Wand an. Würde mein Leben jetzt ruhiger werden? Würde ich jetzt endlich meinen Frieden haben? Fünfzehn verdammte Jahre war mein Leben der blanke Horror. Ich wurde geprägt von Demütigungen, Narben, Ausgrenzung, Hohn und Spott.

Ich wälzte mich wieder auf die andere Seite und sah aus dem Fenster. Der Mond schien hell und erleuchtete alles, selbst die Stellen, die das Licht der Straßenlaternen nicht mehr erreichte.

Leise stand ich auf und öffnete das Fenster. Langsam ließ ich mich auf die dunkelbraune Fensterbank nieder, zog meine Beine an, die ich mit meinen Armen umschlang, und stützte mein Kinn auf die Knie.

Mein Blick wanderte Richtung Himmel. Der Mond hatte schon immer eine beruhigende Wirkung auf mich. Er gab mir das Gefühl, dass die Welt in Ordnung war, dass es keine Probleme gab und mir niemand etwas zuleide tun konnte. Jedoch war das immer nur ein kurzer Moment des Gefühls der Sicherheit. Denn sobald die ersten Sonnenstrahlen den Horizont küssten, platze meine Blase und ich wurde zurück in die grausige Realität geworfen.

In Gedanken versunken besah ich die winterliche Nacht Minnesotas. Die Nacht wirkte so ruhig, so als würde das Böse, welches hinter jeder Mauer lauerte, nicht existieren. Doch ich wusste, dass das alles nur eine schöne Maske war, die die grausame Realität versteckt. „Kannst du nicht schlafen?", vernahm ich eine müde Stimme und mein Kopf zuckte erschrocken in die Richtung, aus der die Frage kam. Als ich bemerkte, dass es nur mein Onkel Samuel war, beruhigte ich mich etwas. Dennoch musterte ich jede seiner Bewegungen.

Auf seine Frage hin antwortete ich mit einem leichten Nicken meines Kopfes und ging langsam von der Fensterbank herunter, blieb aber dort bereits wieder stehen. Der Abstand blieb, alte Gewohnheiten wurde man nun mal nicht so schnell los. Ich durfte keine Fehler machen. Denn jedes kleine vergehen könnte seinen Geduldsfaden reißen und sein wahres Gesicht zeigen lassen.

Mein Onkel schaute mich an. Lange und ich wusste nicht, was in seinem Kopf vorging. Angst kroch in mir hoch, als mir bewusst wurde, dass ich somit eigentlich keine Chance hatte zu flüchten, wenn es darauf ankäme. „Ich muss gleich zur Frühschicht. Willst du mit mir runter gehen oder lieber hier oben bleiben?", fragte er mich und ich schüttelte wieder langsam meinen Kopf. Nervös fing ich an, an den Haargummis, die um meine Handgelenke lagen sind, zu zupfen.

Samuel schaute mich mit einem leicht traurigen Blick an und nickte. „Okay, man sieht sich großer", sagte er und ging. Ich konnte nicht leugnen, dass ich erleichtert war als er endlich weg war. Ich hörte, wie unten in der Küche die Kaffeemaschine zu laufen begann, setzte ich mich auf mein Bett und lehnte mich gegen die Wand.

Heute würde mein erster Tag an der neuen Schule sein. Meine Tante und mein Onkel waren der Meinung, dass mir ein kompletter Neustart guttun würde. Aber ob es wirklich so gut werden würde wie sie meinen, wusste ich nicht. Ich meine, ich wäre nicht nur der neue in der Klasse, sondern höchstwahrscheinlich auch der seltsame der nie spricht und nur gute Noten schreibt. Trotz all dieser Gedanken wurde ich immer müder und ich schlief letzten Endes doch noch in dieser Nacht.

Am nächsten Morgen wurde ich geweckt, als jemand auf mich drauf sprang. Panisch riss ich die Augen auf und wollte zurück kriechen. Ein helles Kichern ertönte und ich sah meine kleine Cousine Victoria. Die Fünfjährige schaute mich mit ihren großen Augen an. „Ich habe dich erschreckt Philli", kicherte sie und ich atmete tief durch, ehe ich begann sie zu kitzelten. Lachend ließ sie sich auf die Seite fallen und bat mich aufzuhören, was ich nach kurzer Zeit auch tat.

Sie sprang auf. „Mami hat gesagt ich soll dich wecken", meinte sie und fasste nach meiner Hand. Victoria zog mich von meinem Bett und ich stolperte ihr müde hinterher. Hand in Hand gingen wir nach unten und ich half ihr sich auf die Barhocker in der Küche zu setzen. Anschließend setzte ich mich neben sie. „Guten Morgen Philipp" sagte meine Tante Chloe, die am Herd stand und Bacon briet.

Ich nickte ihr kurz zu. „Na hast du gut geschlafen?", fragte sie mich und ich zuckte mit den Schultern. Chloe sah mich kurz nachdenklich an, bevor sie den Bacon aus der Pfanne holte und sich und Victoria etwas auf den Teller legte, auf dem schon Rührei und eine Scheibe Toast lagen. Fragend sah sie mich an. „Willst du auch was Philipp?" Ich schüttelte nur verneinend den Kopf. Sie legte die leere Pfanne beiseite und stellte mir dann eine Tasse Tee vor die Nase.

Sofort erfüllte der wunderbare Duft von Schwarztee den Raum. Genießerisch atmete ich den bezaubernden Geruch ein. „Dann trinkst du aber wenigstens deinen Tee Großer, meinte sie schmunzelnd und ich lächelte ihr kurz zu.

Meine kleine Cousine erzählte fröhlich mampfend von ihrem Traum, den sie heute hatte, und wir hörten ihr aufmerksam zu.

Ich trank meinen Tee aus und ging in das Badezimmer nach oben um mich fertig zu machen. Im Badezimmer entledigte ich mich meinen Klamotten und trat unter die Dusche, möglichst drauf achtend keinen Blick nach unten zu werfen. Nachdenklich ließ ich das Wasser auf meinen Körper prasseln.

Was ist, wenn es so wird wie auf meiner alten Schule? Vielleicht wird es auch schlimmer ... Dann wäre der ganze Umzug umsonst gewesen. Wegen mir haben sich meine Tante und meine Onkel die Mühe gemacht überhaupt umzuziehen. Und das nur, damit ich meine Vergangenheit hinter mir lassen kann. Sie haben sich extra darum gekümmert, dass wir ein kleines Haus auf der anderen Seite der Stadt bekommen und sich auch noch die Mühe gemacht mich auf einer neuen Schule anzumelden.

Das hatte ich alles nicht verdient. Ich meine, warum haben sie das getan? Wir hätten genau so gut dort bleiben können wo wir noch bis vor drei Wochen gewohnt hatten, mich hat es dort nicht wirklich gestört. Ich wusch mich zu Ende und stieg aus der Dusche. Schnell trocknete ich mich ab und band mir das Handtuch um den Körper.

Flink huschte ich in mein Zimmer und holte mir eine Boxershorts, einen gelben Hoodie und eine schwarze Skinny Jeans. Mit den Klamotten bewaffnet ging ich zurück ins Badezimmer und zog sie mir an. Schnell putze ich noch meine Zähne und starrte mich dann ausdruckslos im Spiegel an.

Mein Spiegelbild starrte zurück.

Ich schluckte und fuhr vorsichtig die eine Narbe an meiner Augenbraue nach, die ich von meinem Vater vor fünf Jahren bekommen hatte. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken und ich drängte die aufkommenden Erinnerungen zurück. Nie wieder werde ich jemand anderen über mich bestimmen lassen. Nie wieder wird mich jemand ohne meine Erlaubnis anfassen. Nie wieder werde ich mich demütigen lassen. Entschlossen schaute ich mich an. Was passiert ist, ist Vergangenheit und das wird sie auch immer bleiben.



a silent voice | ᵇᵒʸˣᵇᵒʸ |Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt