Teil10

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Gut, dass ich ihm dann doch noch die Haube aufgesetzt hab! Dafür, dass wir Mitte April hatten, war es noch ziemlich frisch. In meiner braunen 3/4 Hose und nur einer dünnen Frühlingsjacke über meiner Weste und einem Top fror ich ganz schön. Es wär wahrscheinlich besser gewesen, wenn ich neben Elias auch mich etwas wärmer eingepackt hätte! 

Dem kleinen Schildkröterich schien die Kälte überhaupt nichts auszumachen. Aber das war kein Wunder, ich hatte ihm ja auch um einiges mehr angezogen, als mir selber. 

Er hatte den alten roten Pullover an, der schon zu seinem Eigen geworden war, meinen Mantel mit aufgestelltem Kragen, einen Schal und noch eine Haube, die ihm viel zu groß war und bis zu den Augen hinabreichte. Einzig seine Füße, Hände und das, was von seinem Gesicht nicht verdeckt war, verrieten seine wahre Gestalt. Eine Vorsichtsmaßnahme, die ich zu meiner Beruhigung ergriffen hatte. Trotzdem war ich angespannt und beobachtete wachsam unsere Umgebung.

"Miriam, guck mal!" Elias schien von meiner Anspannung nichts mitzubekommen. Quietschvergnügt hielt meine rechte Hand und drückte auf seiner anderen Seite die Stoffgiraffe liebevoll. Die zwei "Eliasse" konnte man nicht trennen. Einzig und allein wenn es an der Zeit war zu duschen, ließ der Schildkröterich seine Giraffe auf dem Sofa zurück.

"Miriam, da!", der Kleine zog an meiner Hand, was mich veranlasste seinem Blick zu folgen und ein paar Meter vor uns einen Gullideckel zu entdecken. "Kann man den hochheben?", Elias zappelte vor Aufregung. "Ja, kann man. Aber ich würd das nicht machen!" "Wieso nicht?" "Da geht es hinunter in die Kanalisation. Jegliche Art von Abwasser kommt dort unten zusammen, und das stinkt ganz schön!" Bitte, frag mich jetzt nicht, was Abwasser ist! 

Zu meinem Glück schien der Schildkröterich mit diesem Wort etwas anfangen zu können und als wir den Gullideckel passierten, sprang er freudig darüber hinweg. Meinen langen Mantel hatte ich mit Sicherheitsnadeln hochgesteckt, damit er nicht den Boden schleifte, und so flatterte der schwere Stoff in der kühlen Brise fast nicht.

Nun hatte der Kleine etwas Neues für sich entdeckt: Jeder Kanaldeckel, dem wir auf unserem Weg begegneten, musste übersprungen werden, egal ob groß oder klein, rund oder viereckig. Er hatte sich erstaunlich gut von seiner Verletzung erholt gehabt und viel schneller, als es der medizinische Heilungsprozess verlangte. Ich beobachtete ihn genauer und stellte überrascht fest, dass er trotz null Meter Anlauf eine beachtliche Weite schaffte. Für eine Schildkröte kann er ziemlich gut springen! Ich frag mich, was für seine Mutation verantwortlich war.

Selbst um halb zwei in der Früh waren noch einige Leute auf den Gehwegen unterwegs, schenkten mir und Elias jedoch nicht sonderlich viel Beachtung. Sogar ein Pizzabote düste auf seinem Moped vorbei, was den Kleinen veranlasste sich bei dem plötzlich ratternden Geräusch an mich zu drängen. Wer bestellt bitte um diese Uhrzeit noch eine Pizza? Naja, das ist eben New York, die Stadt, die niemals schläft. Genauso wenig wie die Kriminalität im Big Apple. 

Absichtlich hielt ich mich von dunklen Gassen fern und folgten den Straßen, die zumindest mit spärlichem Licht beleuchtet waren. Andererseits mied ich jedoch starkbefahrene Stadtgebiete, aus Angst jemand könnte doch auf Elias aufmerksam werden.

 So brauchten wir länger, als ich geplant hatte, um an den Ort zu kommen, den ich dem Kleinen zeigen wollte. Ein paar Straßen von meiner Wohnung entfernt gab es nämlich einen kleinen Spielplatz in einem Hinterhof, versteckt zwischen mehrstöckigen Häusern. Wenn sich Elias dort etwas austobt, kann er dann sicher einschlafen! 

Nach zehn Minuten und einem wahrscheinlich unnötigen Umweg über fünf verschiedene Straßen, bogen wir schließlich in eine Gasse zwischen zwei Häusern ab, die zu dem Spielplatz führte. Niemand war zu sehen und so entspannte ich mich ein wenig. Allein die Schaukeln, die im Wind herumwippten, gaben ein metallenes Quietschen von sich, sonst war alles still. 

Ängstlich drückte sich Elias an mich, während er skeptisch die ihm unbekannten Geräte inspizierte. "Das, mein kleiner Bruder, ist ein Spielplatz. Davor braucht man keine Angst zu haben! Komm! Du wirst sehen, das macht voll Spaß!" Zuversichtlich ging ich auf das Karussell zu, der Kleine, noch etwas misstrauisch, mir dicht auf den Fersen.

Schnell besiegte Neugier aber die Furcht und im Nu konnte Elias gar nicht genug bekommen. Alles mussten wir ausprobieren und auch ich wurde nach und nach von kindlicher Begeisterung gepackt.

Schließlich hatten wir es uns auf einer Schaukel gemütlich gemacht und ich tauchte mit den Füßen leicht an, so dass wir gleichmäßig hin- und herwippten. Einen Arm hatte ich um Elias Bauch geschlungen, der auf meinem Schoß saß, damit er nicht hinunterfiel. Dieser wiederum hatte die Stoffgiraffe Elias auf sich sitzen und strich mit seinen grünen Fingern durch die struppige Mähne aus schwarzen Wollfäden.

Ein Gähnen des Schildkröterichs veranlasste mich, auf meine Uhr zu schauen. Drei?! Schon so spät? Ich muss in vier Stunden schon wieder auf dem Weg zur Uni sein, und morgen hab ich auch noch Schicht bei Paul. "Okay, kleiner Bruder! Jetzt aber schnell nach Hause und ab ins Bett!", ich setzte Elias am Boden ab und erhob mich schwerfällig von der bequemen Schaukel. 

"Aber ich bin doch noch gar nicht...", ein zweites Gähnen unterbrach den Schildkröterich. "...müde." "Oh doch, das bist du! Komm, auf!" Meine fünffingrige Hand ergriff Elias dreifingrige und gemeinsam machten wir uns auf den Heimweg.

Dieses Mal wählte ich eine andere Strecke, mit ein paar Abkürzungen, zwischen Häusern hindurch. So kamen wir in ein Viertel von New York, das wir vorhin noch nicht betreten hatten. Wir passierten einen Schmuckladen und bogen in die nächste Straße ein. Links von uns ragte nun eine mit Graffiti besprühte Betonmauer in die Höhe, die in einen großen Innenhof führte. 

"Du, Miriam?", Elias schaute zu mir hoch, was dazu führte, dass sein Blick auf die Betonmauer und das Haus dahinter fiel. Seine Augen weiteten sich und ein panischer Schrei zerschnitt die nächtliche Stille. "Was ist denn?" "Die Kraang! Lass nicht zu, dass sie mich holen!" "Aber hier ist doch niemand!"

Ich drehte mich um und betrachtete das Gebäude genauer: So viel ich durch die Einfahrt in der Betonmauer erkennen konnte, waren dort zwei große Garagentore, wobei eines davon mit Graffiti verziert war, und links von den beiden lag ein weiteres, kleineres Tor, das für Menschengröße gemacht zu schein schien. Es könnte in einen Abstellraum führen, oder...in eine Werkstatt!

Ein Schild auf der Mauer informierte mich, dass es sich bei dem Gebäude um "Ziga´s autobody", einer Autowerkstatt, handelte. Sind die Kraang etwa Mechaniker? Inzwischen zerrte Elias wild an meinem Arm, vor Angst zitterte er am ganzen Leib. Ein Hund bellte in der Nähe. Nichts wei weg hier! 

Ich rannte los und zog den Kleinen hinter mir her, wobei er nach seinem ersten Schock mich sogar beinahe überholte, so schnell trugen ihn seine winzigen Beine vor Angst. Fünf Straßen weiter blieb ich stehen und zwang somit Elias auch das Laufen einzustellen. Er atmete schwer und jammerte jemanden an, den nur er sehen konnte, ihn ja nicht zu den Kraang zurückzubringen.

Sein ganzer Körper bebte so heftig, dass ich dachte, er würde jederzeit umkippen. "Hey, beruhig dich! Ich bin ja da! Ich..." "Ahhh! Nein, nein. Nicht noch eine Spritze! Bitte nicht! Lasst mich!" "Elias!", ich kniete mich hin und packte den Kleinen an den Schultern. "Ich bin´s, Miriam! Alles ist gut!" "Nein, lasst mich, lasst mich!" Ich rüttelte ihn sanft und tatsächlich schien ihn das aus seiner Trance zu reißen. Mit großen Augen sah er mich an und begann herzzerreißend zu schluchzen.

"Alles ist gut, Elias! Du bist bei mir! Schau mal nach oben, siehst du die hohen Gebäude? Die berühren fast die Wolken, so groß sind die." Elias hob seinen Blick und tatsächlich schien er sich etwas zu beruhigen, aber das hielt nur so lang, bis er ein Gebäude entdeckte, das noch mit einem Baugerüst umgeben war und auf dem in riesigen Buchstaben TCRI stand.

Erneut schrie der Schildkröterich panisch auf und kurzerhand nahm ich ihn auf den Arm, drückte seinen Kopf an meinen Hals und rannte zu meiner Wohnung.

Niemals lass ich zu, dass dich diese Kraang in die Finger bekommen! Das schwör ich! Was auch immer sie dir angetan haben, sie werden dir von nun an kein Haar mehr krümmen! Und wenn doch, werden sie dafür büßen!

Wie versprochen! ;-)

Mein Bruder der SchildkrötenmutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt