Teil6

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In freudiger Erwartung schüttelte ich den nassen Regenschirm, dass die Tropfen nur so flogen, putzte mir die Schuhe an der Türmatte ab und betrat meine Wohnung. Entgeistert blieb ich stehen, während die Tür hinter mir ins Schloss fiel. Wo ist er? Der Kleine saß nicht mehr auf der Couch.

Was hab ich mir nur gedacht?! Ihn allein zu lassen! Hektisch suchten meine Augen den Raum ab, um jedes Detail aufzufangen, während ich immer panischer wurde. Die Decke war ebenfalls nirgends im Wohnzimmer zu sehen. Dafür lagen am Boden die Scherben einer Tasse gemeinsam mit meinen CDs und einigen der Studienbücher, die aus dem Regal gerissen worden waren. Der Teppich war ganz verschoben und die Vorhangstange hing schief. Als ob jemand hier richtig gewütet hätte. Wo ist er nur? Vielleicht ist ihm etwas passiert! Wenn uns doch jemand gesehen hat!!

Meine Angst stieg immer mehr, in meinem Kopf sammelten sich unzählige Bilder und Geschichten, was dem laufunfähigen Schildkröten-Jungen alles passiert sein konnte. Schließlich gab ich mir einen Ruck und stürmte in meine kleine Küche, doch diese machte den Eindruck, als wäre alles unangetastet. Verwirrt legte ich den Regenschirm und die Pizza-Gyoza Tüte ab. "Kleiner?!", rief ich, doch es blieb still. Ich kam wieder in den komplett verwüsteten Wohnbereich und schrie erneut nach dem Schildkröterich, dieses Mal jedoch etwas lauter. Erneut bekam ich keine Antwort. Wo bist du nur? 

Rasend vor Angst jagte ich in mein Badezimmer, doch auch hinter dem Duschvorhang fand ich nichts. Nur meine Handtücher waren nicht mehr an ihrem Platz und schienen wie vom Erdboden verschluckt. Was?

Als ich erneut ins Wohnzimmer kam, entdeckte ich etwas Neues, das mich nur noch mehr zum Stutzen brachte: Neben meiner nun leeren Kakao-Tasse lag auf dem Couchtischchen ein verstaubter Socken, den ich schon seit Monaten gesucht hatte. Ebenso war mein Mini-Fernseher mit staubigen Fingerabdrücken übersät. Langsam dämmerte mir, was in meiner Wohnung vorgefallen sein könnte, und ich machte mich auf zum letzten Raum meines zu Hauses, den ich noch nicht abgesucht hatte.

Ich öffnete die nur angelehnte Tür meines Schlafzimmers und seufzte erleichtert auf. Hier war auch alles durcheinander: Die Kissen lagen überall, Notizen aus meinen Vorlesungen waren in alle Winde verstreut und die Laden meiner Kommode standen offen oder hingen nur mehr halb in ihren Verankerungen. Dafür hatte ich meine Handtücher und die blaue Decke wiedergefunden.

Denn dort am Boden, eingekuschelt in die Decke, die Handtücher und ein paar meiner T-Shirts, lag der kleine Schildkrötenjunge und schlief tief und fest, eines meiner alten Kuscheltiere an sich gedrückt. Auf Zehenspitzen schlich ich zu ihm, um ihn nicht zu wecken, und ging leise vor ihm in die Knie. Langsam schob ich die Decke etwas zur Seite, um nach den eigentlich schmerzenden Füßen des Kleinen zu sehen, hielt aber wie vom Blitz getroffen inne, als ich erkannte, was für er für ein Stofftier mit seinen dreifingrigen Händen an sich drückte.

Es war eine Stoffgiraffe. Natürlich konnte ich mich noch genau daran erinnern, wie ich sie vor noch nicht allzu langer Zeit bekommen habe. Meine Mutter hatte sie mir geschenkt, weil sich mein Vater nach Jahren voller Schweigen bei ihr gemeldet hatte. Eigentlich war ich damals schon 12 Jahre alt gewesen und fand Kuscheltiere nicht mehr so besonders, aber diese Giraffe war eine Ausnahme.

Meine Mutter war so voller Freude gewesen. Sie hatte den Mann ihres Kindes, der sich bei der Bestätigung ihrer Schwangerschaft ohne auch nur ein Wort aus dem Staub gemacht hatte, wirklich geliebt. Als sie mir dann eines Abends nach der Arbeit die Stoffgiraffe überreicht hatte, hatte sie mir geheimniskrämerisch nichts über meinen mysteriösen Vater verraten, außer, dass sein Name mit "E" anfing. So glücklich und schelmisch grinsend hatte ich meine Mutter noch nie gesehen.

Damals machte ich ein Spiel daraus und überlegte mir tagelang, wie mein Vater wohl heißen könnte, bis ich auf den Namen "Elias" gekommen war und schnurstracks die Giraffe so benannte.

In Wahrheit hieß mein Vater jedoch Emmett und die Vorfreude meiner Mutter war komplett umsonst gewesen. Kurze Zeit später erkrankte sie an Brustkrebs und starb, bevor sie Emmett noch einmal zu Gesicht bekam. Meinen Vater hatte ich kurz darauf kennengelernt, als ich gütigerweise zu ihm ziehen durfte. Zu Beginn war ich richtig glücklich darüber gewesen, mit ihm zusammenzuwohnen, doch nach einiger Zeit lernte ich den wahren Charakter von Emmett kennen.

Ich sah ihn nur, falls er abends früher von der Arbeit freihatte, da er schon bevor ich aufstand aus dem Haus ging und er spät in der Nacht wiederkam. Und beinahe jedes Mal lag ich wach, während mein Vater im Nebenzimmer mit einer Frau schlief, die er alle drei Wochen wie am Fließband auszutauschen schien. 

Auch wenn ich bei ihm wohnen durfte, als ich alles verloren hatte, war ich richtig froh, als ich nach New York umzog. Fort von Emmett und all den gescheiterten Träumen eines perfekten Familienlebens, das ich von da an glaubte, nur in Büchern finden zu können. 

Eigentlich hatte ich mir vorgenommen die Giraffe Elias in den Müll zu werfen und ebenfalls hinter mir zu lassen, doch ich brachte es nicht über mich. Also hatte ich Elias mitgenommen und ganz unten in einer Schublade versteckt, und nun lag dieses Kuscheltier in den Armen des kleinen Schildkröterichs.

Ich riss mich von meinen Erinnerungen los, als der Kleine begann sich zu rekeln und seinen Mund zu einem herzhaften Gähnen aufriss.

Kapitel 6 und ich hab keine SA mehr für dieses Semester-JUHUU!! Achja: falls ihr Fragen zu "Mein Bruder, der Schildkrötenmutant" habt, einfach Kommentar hinterlassen ;)

Mein Bruder der SchildkrötenmutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt