Eigentlich hätte ich, eine Veterinärstundentin, es besser wissen müssen: eine Schildkröte ist schwerer als sie aussieht, vor allem dann, wenn sie auf dem Heimweg das ganze Pizza Gyoza in sich hineingestopft hat. Es dauerte nicht lange und schon war das gesamte Säckchen leer gefressen. Mir blieb nicht einmal Zeit zu einem Versuch anzusetzen, mein Lieblingsabendessen zu retten. Von wegen Salat, Gemüse und Kräuter-diese Schildkröte aß auch Pizza Gyoza und das tat sie mit Leidenschaft.
Nun starrte der Kleine enttäuscht in die leere Tüte und konnte es nicht glauben, dass er nicht einmal einen einzigen Krümel finden konnte. "Hast...Hast du noch so was?", fragte er gierig und schaute mich dabei leicht vorwurfsvoll an. Entweder hatte es ihm wirklich so gut geschmeckt, oder er hatte seit Tagen nichts mehr gegessen, aber mit so einer Geschwindigkeit hatte ich noch nie eine Portion Pizza Gyoza verschwinden sehen. Auch wenn sie von Mr Murakami persönlich stammte.
"Nein, tut mir leid. Aber wir sind gleich bei mir zu Hause, da lässt sich im Kühlschrank vielleicht etwas finden." Der Kleine schien nicht sonderlich überzeugt, generell bezweifelte ich, ob er meine Worte wirklich 100%-ig verstanden hatte, doch er blieb für den Rest des Weges stumm.
Dem Wetter sei Dank hatten alle Passanten den Blick wegen des Regens gezwungenermaßen auf den Asphalt gerichtet und so hatte niemand bemerkt, was ich eigentlich genau auf meinem Arm hatte. Und die Mieterin war heute Abend auch nicht im Haus. Hab ich ein Glück! Schließlich stand ich vor meiner Wohnungstür und blickte den Kleinen im Licht der Flurlampe auffordernd an, während die Regentropfen von mir abtropften und am Fliesenboden eine Pfütze bildeten. Eigentlich müsste ich dem Gewitter draußen auf den Straßen New Yorks schon fast alle Ehre machen, da ich bis auf die Knochen durchnässt war.
"In meiner Tasche ist der Schlüssel für die Tür. Sperrst du für uns auf?" Der Kleine nickte eifrig, ließ mein Leiberl los und zog den Reißverschluss meiner Tasche auf. In der Zwischenzeit versuchte ich ein Schnaufen zu unterdrücken und nicht auf den appellierenden Schmerz in meinen Armen zu achten; ich konnte den Schildkröterich erst auf meiner Couch absetzen.
Es dauerte etwas bis die dreifingrige Hand wieder aus meiner Tasche auftauchte und der Kleine schließlich voller Stolz meine Bankomatkarte gegen das Türschloss drückte. Verwirrt drehte er sich zu mir, als seine Versuche ohne auch nur den geringsten Effekt scheiterten. Ein Grinsen umspielte meine Lippen und geduldig erklärte ich ihm, was ich unter einem "Schlüssel" verstand. Vielleicht gibt es in dieser...Dimension X, von der er dauernd redet, keinen Schlüsselbund. Aber wo kommt er dann her?
Nach weiteren fünf Minuten hatten wir mit vereinten Kräften endlich die Tür aufgesperrt und ich konnte die menschliche Schildkröte vorsichtig auf der Couch im Wohnzimmer absetzen. Das ich ihn aus meinem Mantel schälte schien er nicht richtig wahrzunehmen, da er vor Staunen den Mund gar nicht mehr zubekam, als er alles um sich herum ganz genau in Augenschein nahm. Ich musste schmunzeln und konnte mich an dem entzückenden Anblick, der sich mir bot, gar nicht sattsehen.
Da entdeckte ich im wohligen Licht meiner Wohnung seine aufgeschürften Knie. Wie vom Blitz getroffen raste ich in die Küche und holte den Erste-Hilfe-Kasten und eine Schüssel mit Wasser. Widerwillig brach der Kleine seine Betrachtung ab, als er bemerkte, dass ich ihm das getrocknete Blut um seine Schürfwunden abwischte. Ängstlich versuchte er seine Knie vor mir in Sicherheit zu bringen, doch ich blieb hartnäckig und tupfte seine dunkle smaragdfarbene Haut sauber. Geschickt verband ich die Wunden und betrachtete den Kleinen noch einmal von oben bis unten, ob ich nicht doch noch eine Verletzung finden konnte.
Sein Panzer hatte einige Kratzer und Risse, sie schienen jedoch nur oberflächlich zu sein und so ließ ich es dabei sie einmal mit Wasser zu reinigen. Als ich aber den rechten Knöchel des Kleinen bewegte, stieß der Schildkröterich einen leisen Schmerzensschrei aus und Tränen kullerten seine Wangen hinunter. "Sch sch alles okay. Alles wird gut!" Da würde mir jetzt ein Humanmedizin-Studium weiterhelfen. Irgendwie ist er halb Mensch und halb Schildkröte. So konnte ich über den schmerzenden Knöchel nur Vermutungen anstellen und beschloss ein Coolpack aus dem Gefrierfach zu holen.
Beruhigend redete ich auf den Kleinen ein, während ich ihm half sich auf der Couch hinzulegen und das in Geschirrtuch eingewickelte Coolpack auf seinen Knöchel zu legen. Ein Schluchzen erschütterte ihn und behutsam legte ich ihm ein Kissen unter den Kopf, damit er leicht aufrecht liegen konnte. Wer hat ihm das alles nur angetan? Was hat er nur alles durchmachen müssen?
Ohne zu zögern setzte ich mich neben ihn und strich ihm die Tränen von den Wangen, die zu meiner Faszination mit dutzenden von Sommersprossen besprenkelt waren. Mein Blick wanderte weiter und ich konnte zum ersten Mal seine Augen richtig sehen: Sie waren groß, schimmerten leicht von den Tränen und von so einem hellen braun, dass sie schon fast gelb zu sein schienen. Ich war wie hypnotisiert und langsam kam mir ein Gedanke in den Sinn, der mich zum Lächeln brachte. Ich werd auf dich aufpassen, mein Kleiner! Niemals lass ich zu, dass dir wieder etwas so Schlimmes passiert! Diese Craang werden dich nie wieder in die Finger bekommen!
Tatatataaa!! Kapitel 4 ist da!!! ;-)
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Mein Bruder der Schildkrötenmutant
Fanfiction"Was ich erlebt hab, könnt ihr euch wahrscheinlich nicht einmal in euren kühnsten Träumen vorstellen. Und nachdem ihr das hier gelesen habt, werdet ihr mich sicher für verrückt erklären, aber was ich euch berichte, ist wirklich passiert! Ich hab ein...