Teil5

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Ein herzzerreißendes "Hatschi!" zerstörte die Stille, die entstanden war, und ich riss mich von meiner Beobachtung los. Schnell rannte ich in mein Schlafzimmer, um dem Kleinen eine Decke zu holen, mit der ich ihn ordentlich einwickelte. "Ich mach dir einen warmen Kakao, okay? Das wird dich auch von innen wärmen." "Was ist das? Kau...", seine grüne Stirn runzelte sich leicht, als er versuchte diesen speziellen Begriff zu wiederholen. "Kakao?" "Es heißt auch "Heiße Schokolade" und ist eines der besten Getränke, die es auf der Welt gibt! Meine Mama hat mir an regnerischen Nachmittagen auch immer einen gemacht."

Ein paar Minuten später war in der gesamten Wohnung das laute Schlürfen des Kleinen zu hören, als er die Tasse mit den sechs Fingern an seinen Mund drückte und einen großen Schluck nach dem anderen nahm. "Hey, langsam! Sonst verbrennst du dir noch die Zunge", doch meine Warnung wurde permanent ignoriert. Meine Tasse unberührt in den Händen saß ich neben ihm und konnte den Blick einfach  nicht von ihm lassen. 

Ein Brummen unterbrach den Augenblick und verblüfft richtete ich mich auf, um die Tasse auf den Tisch vor mir abzustellen. Ich wusst gar nicht, dass Schildkröten auch der Magen knurrt, wenn sie Hunger haben. Wenn das Professor Henry wüsste...Aber er wusste es nicht und er durfte davon auch nie etwas erfahren. Wer weiß, was dieser Mediziner mit dem Schildkröten-Jungen anstellen würde.

Enttäuscht drückte ich die Kühlschranktür wieder zu; nichts Essbares war darin zu finden. Neugierig blickte mir der Kleine nach, als ich alle Vorhänge sorgfältig zuzog, in meinem Schlafzimmer verschwand und kurz darauf mit trockenen Sachen wieder neben ihm saß. "Ich werd noch mal etwas Pizza Gyoza holen, einverstanden?" Die gelb-braunen Augen wurden noch größer und ein breites Grinsen erschien im Gesicht des Schildkröterichs. "Aber du musst mir versprechen, dass du solange liegen bleibst, bis ich zurückkomm! Dein Knöchel darf fürs Erste nicht zu sehr belastet werden." Eifrig nickte der Kleine, voller Freude auf das bevorstehende Essen. "Ich werd bald wieder da sein. Keine Angst, okay!" Verblüfft hielt ich inne, als er mich plötzlich umarmte und nach einem kurzen Moment voller Fassungslosigkeit legte ich meine Arme ebenfalls um ihn.

Schließlich erhob ich mich, zog den grauen Mantel über und trat zur Tür, dieses Mal jedoch nicht, ohne den Regenschirm vom Heizkörper zu fischen. Du bleibst nicht noch einmal zu Hause, das schwör ich dir! Du wirst genauso nass werden wie ich! Gerade als ich meine Hand auf den Türknauf legen wollte, hob der Kleine noch einmal seine Stimme und ich drehte mich zu ihm um. Durch die Decke konnte man den Panzer nicht mehr sehen, nur seine Proportionen und die smaragdene Hautfarbe, die sich konträr von der roten Couch abhob, verrieten noch, dass sich da kein Mensch in die Decke kuschelte.

"Miriam?" "Ja." "Willst du mein Eltern sein, Miriam?" Ohne zu überlegen ging ich noch einmal zurück und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn: "Ja, ich will! Wenn du einverstanden bist, werd ich für dich sorgen!" Kurz strich ich über den glatten Kopf, dann gab ich mir einen Ruck und trat auf die Straße hinaus.

 Ich schaffte es sogar innerhalb von neun Minuten zu Mr Murakamis Laden. Was der anhaltende Regen über New York und eine hungrige Schildkröte zu Hause nicht alles bewirkten! Schnell holte ich mir eine Münze für eine Portion Pizza Gyoza von dem Automaten und betrat das kleine japanische Restaurant. 

Ein Mann stand mit dem Rücken zu mir in der Mitte einer Theke, die ihn von drei Seiten umgab, und rührte mit einem großen Kochlöffel in einem Topf. "Da seid ihr ja! Ich dachte mir schon, ihr kommt heute nicht..." Ohne sich auch nur umgedreht zu haben, schien der Mann seine Meinung über die Identität seines Kunden geändert zu haben, denn er hielt plötzlich inne, bevor er sich zu mir umdrehte: "Oh, du bist es, Miriam-san. Warum kommst du denn so spät noch einmal?" Während der schon älter wirkende Mann mit mir redete, wirkte es so, als würde er nicht mich ansehen, sondern einen Punkt hinter meiner linken Schulter.

Aber an diese Verhalten war ich bereits gewohnt und so antworte ich freundlich: "Guten Abend, Murakami-san. Ich...nun...ich hab heute noch überraschenderweise Besuch bekommen und nichts zu essen daheim, also dachte ich mir, dass ich heute noch einmal bei Ihnen vorbeischau." Mr Murakami wirkte nicht sehr überzeugt von meiner Notlüge, erwiderte jedoch nichts und nahm über den Tresen die Münze mit dem speziellen Aufdruck von mir entgegen.

"Nun, dein Besuch scheint Pizza Gyoza von all meinen Speisen zu bevorzugen." "Es hat wohl den Anschein. Aber Ihr Pizza Gyoza ist auch einfach himmlisch!" Der Mann schmunzelte und machte sich mit einer Geschwindigkeit an seinen Kochutensilien zu schaffen, die mich immer wieder vor Staunen den Kopf schütteln ließ. Man muss an dieser Stelle jetzt wissen, dass Mr Murakami blind ist. Ob er schon von Geburt an nichts sehen konnte, weiß ich nicht, aber sein Defizit schien ihn überhaupt nicht einzuschränken.

Während er also das Essen für meine zu Hause wartende Schildkröte zubereitete, setzte ich mich auf einen der Barhocker am Tresen und beobachtete den Mann bei seiner Arbeit. Irgendwie schien er vor Freude nur so zu strahlen, auf eine andere Art und Weise, als wenn ich ihn sonst immer besuchte. Ich hätte schwören können, dass hinter den dunklen Brillengläsern seine Augen fröhlich schimmerten. Bekommt er heute etwa noch Besuch? Aber wer sollte denn so spät am Abend noch bei ihm vorbeischauen, außer mir natürlich.

Verwirrt drehte ich meinen Oberkörper Richtung Tür, als tatsächlich ein weitere Kunde Murakamis Laden betrat. Es handelte sich um ein Mädchen, das ungefähr in meinem Alter zu sein schien. Ihre roten Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und noch zusätzlich mit einem gelben Haarreifen befestigt. Sie trug schwarze Stiefel, graue Leggins unter einer blauen Jeansshort und ein gelbes T-shirt mit einer weißen "5" auf der Brust. Neugierig musterte sie mich mit ihren hellblauen Augen, bevor sie sich prompt neben mich auf einen Hocker setzte.

Natürlich wusste Murakami auch dieses Mal trotz seiner Blindheit, um wen es sich handelte: "April-san. Schön dich zu sehen." "Es ist mir auch eine Freude, Murakami-san." "Wo bleiben denn die anderen, April-san? Normalerweise seid ihr nicht so spät dran." "Die Ju...Nun sie können nicht mehr weit sein!" "Ich verstehe." Verwirrt hatte ich das Gespräch mitverfolgt und konnte mir nicht so recht einen Reim daraus machen. Wirft mir diese April dauernd einen abschätzenden Blick zu? 

Beinahe schien es so, als würde der japanische Koch seit April aufgetaucht war, noch einen Zahn beim Zubereiten meines Pizza Gyozas zuzulegen. Was hat er denn? Normalerweise ist er nicht so bemüht, mich möglichst schnell wieder loszuwerden. Warum starrt mich diese April so an? Hab ich etwa einen großen Pickel auf der Nase?

Schließlich legte Murakami eine Tüte voll mit frischem Pizza Gyoza vor mir auf die Theke: "So, dann wünsch ich dir ein zweites Mal heute einen schönen Abend noch, Miriam-san." "Danke, Ihnen auch, Murakami-san!" Ich erhob mich von meinem Hocker, wurde jedoch aufgehalten, als diese April mich unvermittelt ansprach: "Ist das etwa Pizza Gyoza?" Verwirrt zögerte ich, bevor ich knappt antwortete: "Ja, wieso?" "Ach, nur so. Ich hab nur vier Freunde, die sind auch ganz verrückt nach Pizza Gyoza. Da kann nicht einmal reagieren, so schnell sind die Portionen verschwunden." "Mhmm, das ist mir heute auch schon passiert", murmelte ich vor mich hin, allem Anschein nach jedoch zu laut, denn April zog neugierig einen Augenbraue hoch. Bevor dieses rothaarige Mädchen mir noch mehr Fragen stellen konnte, entfernte ich mich schnurstracks vom Tresen, sagte kurz "Na dann, auf Wiedersehen. Schönen Abend noch!" und trat aus dem Laden hinaus.

Was war denn das? Verwirrt schüttelte ich den Kopf, spannte den Regenschirm wieder auf und setzte mich in Bewegung. Doch mit einem Ruck drehte ich mich um, als hinter mir ein lautes Scheppern ertönte. Mein Blick richtete sich auf das Dach eines der umliegenden Häuser und ich kniff die Augen zusammen, um mehr erkennen zu können. War da gerade ein Schatten? Ich glaub, ich werd langsam paranoid! Das waren genug seltsame Ereignisse für einen Tag! Ich schüttelte den Kopf und setzte mich erneut in Bewegung. Schnell jetzt, bevor das Pizza Gyoza für den Kleinen noch kalt wird!

Kapitel........5!! Ist etwas länger geworden als sonst, konnte die Begegnung bei Murakami aber nicht kürzen. LG an euch alle!!!

Mein Bruder der SchildkrötenmutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt