5. Kapitel

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     Eine Woche war vergangen, in der ich es nicht geschafft hatte, Ryker zu finden. Tyler hatte mir nicht verraten wollen, in welchem Teil des großen weiten Waldes, der Greendale und Banewood verband, Ryker und das Rudel lebten. Einmal hatte ich Jax gesehen, doch er hatte mir gesagt, dass er die Wünsche seiner Rudelmitglieder akzeptieren musste. Frustriert stand ich in dem Moment vor dem Gemüseregal und verfluchte die Früchte dafür, so faul und alt auszusehen. Keine der Früchte wirkte mehr frisch, doch ich hatte momentan Lust darauf, Weintrauben zu essen. Doch wenn sie schön waren, waren sie überteuert. Nur die hässlichen schienen billiger zu sein. Langsam hatte ich davon genug. Wütend raufte ich mir durch meine blonden Haare. In dem Moment spürte ich einen brennenden Blick auf meinen Rücken.
     Sofort wirbelte ich herum und stieß dabei fast eine Frau mit schwerem Einkaufskorb um. Finster starrte sie mich an. Schnell beeilte ich mich eine Entschuldigung zu murmeln, dann sah ich mich weiter um. Dieser brennende Blick stammte nicht von einer fremden Person. Er stammte von Ryker. Mein Körper schien auf seine Nähe zu reagieren. Eine Gänsehaut zierte meinen Arm und ein kleiner Teil in mir ließ Schmetterlinge in meinem Bauch aufsteigen, als ich mir vorstellte, dass er hier war. Doch egal in welche Richtung ich sah, er schien nicht mehr da zu sein. Irritiert und enttäuscht wandte ich mich wieder dem Obst zu. Der größte Teil in mir war es mittlerweile satt, dass er mir so aus dem Weg ging. Ich war es satt, dass er dachte, dass er mir aus dem Weg gehen müsste.
     Ein Teil in mir verstand es einfach nicht. Ich verstand nicht, warum er mir aus dem Weg ging, wenn wir Seelenverwandte waren. Natürlich war dieser Gedanke etwas... beängstigend. Doch Ryker machte mir keine Angst. Er war nicht so besitzergreifend wie andere. Er würde mir die Chance geben selbst eine Wahl zu treffen. Er würde mir die Chance geben ihn kennenzulernen, bevor er mich biss und das war etwas, das ich sehr schätzte. Momentan gab er mir allerdings überhaupt keine Chance. Er ging auf Abstand, als wäre ich ein Parasit, den er nicht wollte. Natürlich war mir klar, dass er dachte, es wäre besser so. Nur empfand ich das nicht so. In meinen Augen war das nicht das Beste. Jedenfalls nicht für mich. Denn ich wollte ihn kennenlernen. In seiner Nähe fühlte sich ein Teil in mir schrecklich befreit.
     Ein Teil in mir fühlte sich so frei als wäre ich nie gefangen gewesen. »Entschuldigung, könnten Sie sich endlich entscheiden? Andere wollen auch noch vor den Trauben stehen«, riss mich eine rauchige Stimme aus meinen Gedanken. Ich wirbelte herum und sah einen alten Mann, der mich entnervt ansah. Wenn Blicke töten könnten, wäre ich vermutlich in diesem Moment gestorben. Mal wieder, innerhalb ein paar Minuten murmelte ich also eine Entschuldigung und lief weiter. Statt also Weintrauben zu kaufen, entschied ich mich jetzt für ein paar Bananen und Äpfel, die zwar nicht von hier kamen, doch der Joghurt, der nicht saisonal war, kam ja auch nicht von hier. Mit dem Obst lief ich zur Kasse. Als ich in den Gang mit den Süßigkeiten bog, spürte ich wieder diesen brennenden Blick auf mir. Vorhin hatte ich es für Zufall gehalten, doch irgendwie hielt ich es nun nicht mehr dafür.
     Der Blick war zu stechend. Zu genau, um Zufall zu sein. Dieser Blick verweilte viel zu lang auf meinem Körper. Auf meinem Rücken. Als ich genug hatte blieb ich einfach im Gang stehen und lauschte. Im Stimmengewirr und im Gewirr der vielen Schritte vernahm ich ein Geräusch von Schritten, dass zum gleichen Moment verstummte, wie meine Schritte. Sofort blickte ich in diese Richtung und zwischen den ganzen Tüten an Chips, Flips und anderen Dingen, erkannte ich ein Stück moccafarbener Haut, dass nur zu Ryker gehören konnte. Wie beiläufig sah ich mir die Chips an, die ich eigentlich auswendig kannte. Jede Geschmacksrichtung hatte ich schon mal probiert und fand doch die salzigen am besten. Also tat ich so, als würde ich überlegen, mit dem anderen Augen sah ich aber immer wieder zu Ryker, der sich nicht rührte. Er stand an Ort und Stelle. Gut, dachte ich mir, bevor ich die Tüte Chips in meinen Einkaufskorb wandern ließ.

     Gemütlich schlenderte ich weiter durch den Gang, sah mir weiter Produkte an. Ryker folgte mir auf der anderen Seite des Regals. Innerlich schmunzelte ich. Ob er es tat, um sicher zu gehen, dass es mir gut ging oder ob er es tat, weil er mich beobachten wollte oder ob er mir nicht mehr fern bleiben konnte, wusste ich einfach nicht. Doch ich genoss seine Nähe. Er strahlte diese gewisse Ruhe aus. Wie ein Hund... vielleicht war das ein doofer Vergleich, aber Hunde strahlten immer eine gewisse Aura aus, wenn sie richtig erzogen waren. Sie brachten das Strahlen auf die Lippen der Menschen und vermittelten ihnen Ruhe. Das gab auch Ryker mir. Wenn er in der Nähe war, war ich von meinen Zehenspitzen bis hin zu dem Ansatz meiner Haare mit Ruhe und Freiheit gefüllt. Alles schien so leicht. Mein Herz schlug langsamer und fühlte sich frei, ich fühlte mich frei. Es ging mir besser. Auch, wenn ich ihn nicht richtig sehen konnte, übertrug sich seine Ausstrahlung auf mich. Er folgte mir weiterhin und schien zu glauben, dass ich ihn noch nicht entdeckt hatte.
     Deswegen nutzte ich meine Chance und deutete an, nach rechts zu biegen, dorthin, wo er nicht war. Doch genau dann, als ich seine Schritte hörte, drehte ich mich um. Entsetzen huschte über sein Gesicht und er erstarrte mitten in der Bewegung. Herausfordernd verschränkte ich die Arme vor der Brust und hob eine Braue. »Wie lange wolltest du mir folgen?« Ryker kratzte sich am Nacken. »Also... ähm... « Eine wage Ausrede, die mich noch wütender zu machen schien. »Warum gehst du mir überhaupt aus dem Weg? Du kannst nicht erst sagen, dass wir Mates sind und dann einfach verschwinden! Das ist eine große Sache.« Etwas an seiner Nähe war mir so vertraut. Vielleicht war ich deswegen so ruhig, was die ganze Seelenverwandten Sache betraf. Doch hier in Greendale wuchs man bereits mit dem Gedanken auf, einen Werwolf als Partner haben zu können. Es war ganz natürlich.
     Man wuchs so auf. Man stellte nicht in Frage, warum Menschen mit Werwölfen herumliefen. Man stellte es einfach nicht in Frage, weil es egal war. Es war normal. Wieder kratzte er sich am Nacken und seufzte schwer. »Das weiß ich... ich weiß es wirklich aber... es ist nicht so einfach, wie du denkst.« Nun war ich verwirrt. In meinen Augen war es nämlich nichts anderes, wie bei menschlichen Paaren. Man lernte sich kennen, entschied dann, ob man das Leben mit dieser Person verbringen wollte und wenn nicht, dann nicht. Schwerer war das nicht. »Und warum ist es nicht einfach?« Fragend sah ich ihn an. Seine dunklen Augen trafen meine mit so einer Intensität, dass ich für einen Moment glaubte den Halt unter den Füßen zu verlieren. Er starrte mich an. Was genau er dachte wusste ich nicht. Er schien nach einer Antwort zu suchen.
     »Deine Eltern mögen mich nicht. Das ist das erste Problem. Dann gibt es noch viele weitere Probleme... am besten ist es, dass du vergisst, was ich gesagt habe.« Nun war ich noch irritierte. Er sprach immer in Rätseln, anstatt endlich mal die Wahrheit zu sagen. »Meine Eltern bestimmen nicht über mich. Das kann nicht wirklich ein Problem sein.« Wut funkelte in seinen Augen auf und so ein tiefer Schmerz, dass ich nicht wusste, wie alt dieser Schmerz sein musste. »Deine Eltern sind reich, Lani. Wenn sie wollen können sie alles tun. Alles. Geld spielt keine Rolle. Deine Mutter könnte eine Baumfirme anheuern, um dort, wo wir wohnen, das Haus wegzureißen, um für sich ein Haus bauen zu lassen oder sie könnte vor Gericht ziehen, sich eine Lüge ausdenken und sagen, dass ich mich 200 Meter von dir fernhalten soll. Das ist alles möglich.«
     Mein Mund klappte auf, doch es kam nichts heraus. Nur Luft. Etwas perplex starrte ich ihn an. Seine Worte ergab Sinn. Ja, meine Eltern waren reich und ja, meine Mutter hatte manchmal... einen leichten... Dachschaden, aber dass er auf die Idee kam, dass meine Mutter so weit gehen würde, versetzte mir einen Stich. »Hattest du mit reichen Leuten so schlechte Erfahrungen?«, brachte ich nach einer Weile des Schweigens heraus, während sich in meinem Kopf noch immer alles zu drehen schien. Immer weiter und weiter. Ryker sah mich lange an. Überlegend. Forschend. Unsicher. Als wüsste er nicht genau, was er sagen wollte. Was er sagen sollte. Dann nickte er. »Ein... Bekannter hatte mal einen ähnlichen Fall. Der Vater des Mädchens hasste ihn und tat alles mit Geld, um sie voneinander zu trennen. Es ging nicht gut für ihn aus. Der Mann sorgte dafür, dass sie beiden nicht mehr zueinander fanden. Er leidet, doch sie leidet noch nicht so, weil die Bindung noch nicht vollzogen wurde. Sie hat jetzt einen Freund, während er nie eine andere finden wird.« Dieser Bekannte schien ihm nahgestanden zu haben, denn da war so viel Schmerz in seinen Augen.
     Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und ich wollte ihm sagen, dass meine Mutter nicht so war. Dass sie das nie tun würde... allerdings brachte ich die Worte nicht über meine Lippen. Etwas hielt ich mich davon ab. Was genau das war, konnte ich nicht sagen. Sie wollten mir einfach nicht über die Lippen kommen, egal was ich versuchte. Sie kamen nicht über meine Lippen. Als gäbe es da einen Schalter in mir, der es mir verbat. Egal wie sehr ich mich bemühte, ich brachte diese Worte nicht über meine Lippen, denn sonst wären sie vielleicht eine Lüge.

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