Am folgenden Montag war es dann soweit: der persönliche Alptraum der Autumn Nicholson begann. In der langen Pause am Nachmittag hatte Javor mich in sein Büro der Schülersprecher zitiert. Der Raum, den er und Bethany sich teilten, hatte eine dunkle Holzvertäfelung an den Wänden, was dem Ganzen eine bedrückende Atmosphäre verlieh. In diesem Internat konnte man Spaß vergeblich suchen. Javor allerdings schien sich sehr wohl zu fühlen. Er hatte seinen Sekretär mit kleinen Gegenständen versehen, die ihm offenbar sehr am Herzen lagen: Gedichtbände, Auszeichnungen hinter ihm an der Wand, sowie ein kleines gerahmtes Foto eines unfassbar niedlichen Australian Shephards. Ich nahm mir vor, Javor auf die Fotografie anzusprechen. Auch Bethanys Schreibtisch war schön hergerichtet, mit Blumenvasen und kleinerem Schnickschnack. Es fiel mir schwer das zuzugeben, aber die Frau hatte ein Auge fürs Detail.
„Autumn!"
Unwirsch schnippte Javor vor meinem Gesicht herum. „Ich habe gefragt, wie du mit der Zusammenfassung des Romans vorankommst?"
Wie ein Fausthieb erwischte mich die Realität. Ich blinzelte verwirrt. „Ähm... die Zusammenfassung?", fragte ich und kramte in meinem Gedächtnis nach einer passenden Ausrede.Mr. Oak, aus dem Kurs für britische Literatur, hatte uns heute morgen mit der Ankündigung eines Test überrascht, der die Lektüre behandeln sollte, die wir aktuell lasen. Um meinen Fortschritt zu garantieren, hatte Mr. Oak, sowie die übrigen Lehrkräfte, meinen Stoff mit Javor abgesprochen. Prompt hatte ich die Aufgabe bekommen, die Lektüre zusammenzufassen. Das Problem war allerdings, dass ich nicht wusste worüber ich schreiben könnte, da ich das verflixt dicke Buch nicht einmal angerührt hatte.
„Du musst endlich anfangen dich zu konzentrieren." Genervt schüttelte Javor den Kopf. Ich muss wohl nicht beschreiben wie unglaublich gut er dabei aussah. Heute trug er die hässliche Schuluniform. Die dazugehörige Krawatte stand ihm jedoch ausgesprochen gut. Und dann auch noch diese verwuschelten Haare...
„Autumn!"
„Entschuldige."
„Du bist mit den Gedanken ganz woanders."
Da hatte er recht.
„Der Test ist bereits nächste Woche. Wir müssen uns echt ranhalten, wenn wir dir eine gute Note einbringen wollen."
Er sagte wir!
„Autumn!"
Seine Geduld war nun wirklich am Ende.
„Tut mir Leid!", verteidigte ich mich. „Aber ich habe schon ein paar Kurse hinter mir und in knapp einer Stunde kommen noch mehr. Ich bin total überanstrengt", beschwerte ich mich. Für Javor schien die Ausrede nicht zu gelten. „Du bist hier auf Appleville. Die Lehrer fordern eine gewisse Leistung, daher solltest du ausnahmsweise versuchen, das gewünschte Niveau zu halten."
Unwillig verdrehte ich die Augen. „Du klingst genau wie meine Mitbewohnerin Sienna", maulte ich. „Eine kluge junge Frau", bemerkte Javor.„Gib es zu", sagte ich und beugte mich über den Schreibtisch nach vorne. „Ihr alle wollt mich hier quälen für die Schandtaten, die ich in New York verbüst habe."
Nun schlich sich ein leises Lächeln auf seine Lippen. „Aber sicher", antwortete er. „Mir gefällt die Rolle des Sklaventreibers außerordentlich gut."
„Ich wusste es!" Triumphierend warf ich die Hände über den Kopf und ließ mich in meinen unbequemen Stuhl zurückfallen. „Wen muss ich bestechen, um mein altes Leben zurückzubekommen?", fragte ich scherzhaft. Javors Stirn verengte sich. „Ist es das, was du willst? Zurück zu deinen verwöhnten New Yorkern?"
„Na klar", gab ich verblüfft zurück. Mein Leben war so viel einfacher, bevor ich gegen meinen Willen hier her verfrachtet wurde. Ich war glücklich."
„Und hattest keine Ahnung vom Leben. Im Ernst, Autumn, wie hätte dein Alltag in zwanzig Jahren ausgesehen?"
„Wie meinst du das?", fragte ich ehrlich verwundert.
„Ohne einen Schulabschluss kannst du niemals einen anständigen Beruf ergattern."
„Das ist doch das Tolle. Meine Eltern haben genug Geld um mein Leben zu finanzieren. Ich muss nicht arbeiten gehen. Dafür sind Eltern doch da: um ihrem Kind das Beste vom Besten im Leben zu ermöglichen!", erklärte ich überzeugt.
„Aber jeder muss doch seinen Beitrag in der Gesellschaft leisten. Was ist dein Beitrag?", fragte Javor.
Die Frage hatte gesessen.„Ich..." Doch weiter kam ich nicht. Der Brite hatte mich sehr verunsichert. Doch meine Verblüffung hielt nicht lange. Ein kurzes elektronisches Pling ertönte und sofort vergaß ich die Welt um mich herum. Jemand schien auf die Pausetaste gedrückt zu haben.
„Was war das?", fragte ich beinahe mechanisch. Doch Javor brauchte garnicht zu antworten. Versteckt hinter einem Stapel Papier lag ein kleines metallisch glänzendes Etwas, das nun in Javors rechter Hand lag. Mein Auge begann unkontrolliert zu zucken als mir klar wurde, was mein Lernpate nicht nur in den Händen hielt, sondern auch benutzte: Ein Handy. Um genau zu sein ein sehr aktuelles Modell. Ungerührt tippte Javor darauf herum, während ich mir den Hals verrenkte um das Teil hypnotisch anzustarren.
„Du hast ein Handy?", rief ich schrill und versuchte krampfhaft den Drang zu unterdrücken, ihm das Teil aus der Hand zu reissen.
„Tatsächlich Autumn", erwiderte er entnervt, „besitze auch ich ein Handy. Nur weil ich gute Noten schreibe heisst das nicht, dass ich nicht völlig realitätsfern lebe."
„Aber wieso funktioniert es?", quiekte ich aufgeregt.
„Im Büro der Schülersprecher haben wir W-Lan, damit wir uns nicht nur problemlos um die Belange der Schüler kümmern können, sondern auch um private- oder karriereorientierte Beziehungen."Er erklärte das so gelangweilt und emotionslos, dass ich ihn am liebsten geschüttelt hätte. Ich lebte inzwischen so lange ohne mein Handy, dass allein der Gedanke an Javors mir gegenüber eine wohlige Gänsehaut bereitete.
In rasantem Tempo schlussfolgerte ich, dass ich in den Lernsessions einfach mein Handy mitnehmen könnte. Hier würde ich dann stundenlang mit Amina quatschen und mir ein Stück New York nach Appleville holen. Mit leichtenden Augen sah ich die wundervoll entspannten Stunden vor mir. Meine Instagram Seite würde sich zwar mit langweiligem britischen Inhalt auseinandersetzen müssen, aber eindeutig besser als nichts!Entschlossen erhob ich mich von meinem Stuhl. „Such das W-Lan Passwort raus!", kommandierte ich. „Ich hole schnell mein Handy, dann bin ich in Null-Komma-Nichts wieder da."
„Davon rate ich dir ab.", entgegnete der Schülersprecher, weshalb ich irritiert in der Bewegung inne halten musste.
„Der Zugang ist nur für ausgewählte Mitglieder gedacht, also setz dich wieder hin."
„Ausgewählte Mitglieder? Ich bin deine Lieblings- Schülerin!"
Breit lächelnd und mit flehenden Kulleraugen sah ich ihn an. Javor aber schüttelte nur seinen dunklen Schopf.
„Davon bist du meilenweit entfernt. Du hast ha nichtmal mit deiner Zusammenfassung angefangen."
„Bitte bitte bitte, liebster Javor!", flehte ich, doch mein Lernpate blieb eisern.„Kann ich dir nicht irgendwas anbieten? Eine Designerhandtasche? Oder teuren Schmuck?"
„Autumn, ich bin an solchen Dingen nicht interessiert.", entgegnete er frustriert. „Aber irgendwas möchtest du doch bestimmt haben. Ein Buch über Mathematik oder so?", begann ich zu rätseln.
„Ich möchte, dass du eine gute Note schreibst, das ist alles."
„Dann verspreche ich dir, eine gute Note zu schreiben. In britische Literatur kann ich das bestimmt schaffen und wenn das so ist, gibst du mir das Passwort. Sozusagen als Belohnung."Javor lachte herzlich. „Netter Versuch. Aber du solltest deine Noten durch ehrliche Leistung verdienen. Wenn du das aus eigenem Antrieb schaffst, wird dein Stolz das größte Lob überhaupt sein."
„Das war wirklich ultra strebermäßig, was du da gesagt hast." Ich zog einen Flunsch.
„Aber es ist wahr."Nach diesen letzten Worten legte er sein Handy zur Seite, schnappte sich mein Lehrbuch und blätterte zu einer der ersten Seiten um meinen Wissensstand über die Lektüre abzufragen. Nachdem Javor sich vergewissert hatte, dass ich das Buch tatsächlich nicht gelesen hatte, ging er dazu über, mir die wichtigsten Stellen des Inhalts wiederzugeben. Ich hörte jedoch nur mit halbem Ohr zu.
Die Kammer des Schreckens hatte sich in die Kammer der Glückseligkeit verwandelt mit nur einem Ton; im wahrsten Sinne des Wortes. Javor konnte sich bemühen so viel er wollte, mir die angeblichen Vorzüge des erfüllten Lebens als Klassenstreber anzupreisen. Doch ich wollte mein Handy. Mehr als alles andere. Ein Plan musste her und ich hatte schon eine Idee...
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#grl_pwr, oder wie man ohne Wlan überlebt
JugendliteraturZwei Qualitäten zeichnen Autumns Eltern aus: sie sind reich und immer unterwegs. Ihre Tochter bleibt daher sorglos und verwöhnt mit einer Kreditkarte in New York und lebt in den Tag hinein. Als sie die Schule abbrechen will um sich auf ihr eigenes B...