Fatica

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Das Leben war eine Bitch. Nicht einmal konnte ich von mir behaupten, mich auf das zu konzentrieren, was der füllige Lehrer da an die Tafel kritzelte. Die Klassenräume waren furchtbar trostlos und die Fenster befanden sich weit über mir an den dunklen Wänden, sodass mir ein Blick nach draußen verwehrt blieb. Jedoch hinderte es mich nicht daran, meine Gedanken schweifen zu lassen. Zurück nach New York. Was wohl Amina gerade tat? In der Schule war sie auf keinen Fall. Also was konnte es sein? Maniküre? Pediküre? Eine ausgedehnte Shoppingtour?

Vermisste sie mich?

Ich saß im Mathekurs. Die vierte Unterrichtsstunde an diesem Tag und ich war definitiv mit den Nerven am Ende. Allein schon das geteilte Zimmer war der Horror! Die hübsche hochwangige Sienna hatte geschnarcht wie ein Holzfäller und hatte mir somit den Schlaf geraubt. Am Morgen konnte ich als Ergebnis meine Augenringe bewundern, die so tief lagen, dass man sie hätte mit Wasser füllen können.
Keine Ahnung welche Fächer ich heute alles besucht hatte. Letztlich war ich dort nur physisch anwesend.

Ein positiver Aspekt das Internats waren die Einzelsitzplätze. So kam ich nicht in Verlegenheit unsägliche Trottel abweisen zu müssen, die nur zu gern einen Platz neben mir ergattert hätten. Die penibel hintereinander aufgestellten Sitzplätze ließen genug Abstand dazwischen, damit jeder Schüler sich individuell auf sich selbst konzentrieren konnte. In meinem Fall hieß das, ungestört träumen, was mir bei einem der hinteren Plätze gut gelang, da der Lehrer ziemlich weit nach hinten hätte laufen müssen, um mich überhaupt zu sehen. Meine Klassenkameraden waren ziemliche Streber. Bei fast jeder Frage schnellten ihre Finger in die Höhe und kaum jemandem unterlief ein Fehler. Besonders Sienna, die in der ersten Reihe saß, entpuppte sich als Streberin. Susan war in einer anderen Klasse meines Jahrgangs, der aus knapp 300 Schülern bestand.

Zunächst einmal hatte es großen Wirbel gegeben, als ich das Klassenzimmer betreten hatte. Eine neue Schülerin mitten im Schuljahr war etwas besonderes, doch ausnahmsweise war mir nicht nach einem großen Auftritt. Zum einen trug ich eine unfassbar hässliche Schuluniform in einem dunklen Grün, dass es mir übel wurde. Zum anderen war ich hundemüde und auch die Demütigung des gestrigen Abends steckte noch in meinen Knochen. Immer wieder musste ich an Javor denken. Sein dichtes dunkles Haar, die Statur, diese Stimme. Ich konnte nicht fassen, dass er auf mich so abweisend reagiert hatte. Er war perfekt, ich war perfekt, wo lag da das Problem?

Hätte ich in der vergangenen Nacht Schlaf gefunden, so hätte ich sicherlich von ihm geträumt. Bestimmt wäre er als Ritter zum Schloss geeilt um die bezaubernde Prinzessin- mich, aus den Fängen eines brutalen Raubritters zu befreien.

Aber wie schon bemerkt, war das Leben gerade gegen mich. Unruhig rutschte ich auf meinem unbequemen Stuhl herum. Es quietschte, doch niemand nahm Notiz von mir. Das machte mich wirklich wahnsinnig. Auf der Upper East Side war ich das absolute It- Girl gewesen. Dann kam ich hier her und schwupps, war ich ein Außenseiter.

Natürlich dachte ich auch an mein Handy. Unnütz lag es in den tiefen meines Koffers und wartete sehnsüchtig wie seine Besitzerin darauf, endlich wieder intensiv benutzt zu werden. Bei dem Gedanken an meinen Instagramkanal blutete mein Herz. Hoffentlich nahm Amina ihre Verpflichtung, meine Follower zu bespaßen so ernst wie ihren Hang, Geld tonnenweise auszugeben. Ich ließ es bleiben ein Stoßgebet zu verabschieden, immerhin war Gott mir nicht wohl gesinnt.

Nachdenklich warf ich einen prüfenden Blick zur Tafel, nur um festzustellen, dass mich die Gleichungen noch genau so wenig interessierten wie zwanzig Minuten zuvor. Automatisch sank ich noch etwas tiefer in meinen Stuhl. Noch eine halbe Stunde Langeweile lag vor mir. Was sollte ich bitteschön so lange tun?

Ich sah mich nach links und rechts um. Die Schüler in meinem Jahrgang waren so furchteinflößende Geschöpfe. Hallo? Ich war auf einem englischen Internat. Wo waren die Mitglieder des Königshauses? Jemand von Stand mit Stilempfinden! Die Loser neben mir hatten Akne und ungekämmte Haare. Zugegebenermaßen waren in New York nicht ausschließlich hübsche Jungs auf den Straßen unterwegs, doch im Gegenzug zu Appleville gab es schon das ein oder andere Mal was fürs Auge.

Wäre doch nur Javor hier!

Da war es wieder, sein Konterfei breitete sich in meinem Kopf aus.
Bevor ich weiter in Schwärmereien für den gutaussehenden, doch furchtbar arroganten Mädchenschwarm versank, unterbrach ein Klopfen die angespannte Atmosphäre im Klassenzimmer. Alle Augenpaare waren auf die Tür gerichtet, die sich auf das „Herein", der Lehrkraft schwungvoll öffnete. Es trat eine hochgewachsene Blondine ein in glatt gebügelter Schuluniform. Im Arm hielt sie ein Klemmbrett, welches sie nun wichtigtuerisch gegen ihre obere Hüfte stemmte und einen Stift in der Hand hielt, bereit zu schreiben.

„Miss di Viglio, was verschafft uns die Ehre?", schnarrte die Stimme des Lehrers.
„Ich komme im Namen der Schülervertretung, um die Anmeldungen für den Kuchenbasar entgegenzunehmen", flötete sie mit einer mädchenhaften Stimme, bei der mir ein unfassbar strenger Unterton nicht entging.
„Denkt dran Leute, dass das Geld, welches wir bei dem Kuchenbasar einnehmen, zu einhundert Prozent an den Kinderschutzbund gespendet wird. Es lohnt sich also, fleißig zu backen."

Ihr Lächeln war falsch. Vermutlich war es ein wenig voreilig, die Blondine so schnell zu verurteilen, doch mein Schlampenradar lief auf Hochtouren- und er irrte sich nie!

Die ersten Finger schnellten in die Luft und versprachen Marmorkuchen, Schokotorte und diverse Muffins. Ein besonders witziger Spaßvogel brüstete sich damit, die besten Hashkekse der Welt zu backen, wobei er von einem strengen Blick der Lehrkraft zur Raison gebracht wurde.

Mit zufriedenem Lächeln verabschiedete sich diese di Viglio überaus höflich und ließ einen chaotischen Haufen Schüler zurück, die einander unbedingt mitzuteilen versuchten, wann, wo und wie sie am liebsten buken.
Mir war das natürlich egal. Ich hatte mich nicht in die Liste eintragen lassen. Verpflichtungen waren mir zuwider.

Leider konnte ich das nicht von meinen Mitbewohnerinnen behaupten, die in unserer gemeinsamen Küche emsig am Rühren und Kneten waren. Überall auf dem Boden lag Mehl  und Susan und Sienna stritten sich in ihren bunten Kochschürzen um die Nutzung des Backofens. Nach diesem langen Tag verursachte ihr Lärm bei mir Kopfschmerzen. Deshalb versuchte ich ausnahmsweise zu schlichten und warf mich regelrecht zwischen die beiden.

„Heilige Chanel, habt ihr beiden wirklich nichts besseres zu tun, als euch über den Ofen zu streiten?"
„Was geht dich das an, New York", giftete Sienna sofort zurück und rollte mit den Augen. Susan allerdings gehorchte mir treudoof wie ein Labrador und errötete.
„Wieso beschäftigen sich alle mit diesem Kuchenbasaar? Bei dem Ansturm an Spenden könnten wir wahrscheinlich ganze Ländereien aufkaufen, also wen kümmerts, ob zwei Kuchen mehr oder weniger am Ende angeboten werden?"
Susan schüttelte heftig den Kopf, sodass ihr krauses Haar nur so gegen ihr Gesicht peitschte.
„Bethany würde uns fertig machen, wenn wir ihre Aktion nicht unterstützen würden!", erklärte sie mit ängstlichem Blick.
„Bethany?", fragte ich. „Ist das diese di Viglio, die heute in meinem Mathekurs aufgetaucht ist? Madame super- wichtig mit Klemmbrett?"
„Ja, Bethany di Viglio ist unsere Vize- Schülersprecherin", erklärte Susan, während Sienna mich keines Blicken würdigte und in der Zwischenzeit den Teig in ihrer Form in den Ofen bugsiert hatte.

„Und was soll an der bitte so schlimm sein?"
„Du hast ja keine Ahnung. Sie organisiert verschiedene Aktionen um das Image der Schule aufzupeppen. Außerdem ist sie eine verdammt gute Schülerin- die Beste ihres Jahrgangs, neben Javor..."
„Ach so. Eine Schleimerin. Vor so einer braucht man doch keine Angst zu haben."
„Du bist so mutig, Autumn", hauchte Susan beeindruckt.
„Ich könnte mich nie gegen eine di Viglio stellen. Bethany kann so einschüchternd sein."

„Was ist das eigentlich für ein Name, di Viglio? Ist das schon wieder italienisch?"
„Ja, sie ist ebenfalls Mitglied des italienischen Adelgeschlechts und eine entfernte Cousine von Sienna", erläuterte Susan. Mir platzte fast der Kopf von so viel Aristokratie.
„Da du doch so auf Stand und Reichtum stehst", mischte sich nun Sienna ein, „solltest du dich vielleicht mit ihr anfreunden. Das könnte doch passen: reich und reicher, dumm und dümmer..."
Ich ignorierte ihren Spott. „Ihr tanzt also alle nach Bethanys Pfeife aber mögt sie nicht einmal?
„Sie macht mir Angst", meinte Susan.
„Sie ist zu bossy", meinte Sienna.

„Ihr trauriger Haufen. Ich backe keinen Kuchen für sie und Miss Vize- Schülersprecherin juckt das nicht im entfertesten."
„Noch hast du ihren Zorn nicht zu spüren bekommen!", murmelte Susan und ihre Augen wurden kugelrund.

#grl_pwr, oder wie man ohne Wlan überlebtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt