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Die meiste Zeit verbrachten Susan und Sienna in der Bibliothek, ein Ort, den ich schon immer streng gemieden hatte. Noch vor Unterrichtsbeginn verließen sie zumeist das Zimmer um zu lernen und erst kurz vor Sperrstunde kehrten sie zurück. Für meinen Geschmack nahmen die beiden den Englischtest etwas zu ernst; vierzig Prozent hin oder her.
Jedoch blieben mir somit die unangenehmen Gespräche erspart. Seit dem peinlichen Vorfall am Sonntag hatten wir jegliche Konversation vermieden. Ehrlich gesagt, hätte ich keinen blassen Schimmer gehabt von dem, was ich überhaupt zu sagen gehabt hätte. So oder so ähnlich musste es den beiden bestimmt auch gehen.

Auch meine zweite Woche auf Appleville wurde nicht spannender. Sowohl der Unterricht, als auch die Nachmittage allein auf meinem Zimmer zogen sich wie Kaugummi in die Länge. Das Leben auf dem Land war so sterbenslangweilig. Auf den Korridoren hielt ich ständig Ausschau nach Javor. Sein Anblick hätte mir so manchen Tag versüßt, doch zu meinem Pech, hatte er vermutlich in einem anderen Gebäudetrakt Unterricht. Ein weiterer Störfaktor in diesen Zeiten war der mangelnde Empfang. So langsam bekam ich Entzugserscheinungen vor lauter Abstinenz. Mein Handy hatte ich griffbereit auf meinem Nachttisch, doch ohne einen klitzekleinen Balken war es absolut nutzlos.

Immer öfter ertappte ich mich dabei, wie ich Selbstgespräche führte. Manchmal tat ich so, als sei Amina im Raum und begann dann wild drauf los zu plappern. Passierte sowas mit Menschen, die sich kein Handy leisten konnten? Wurden die alle irgendwann irre?
Auch das Modemagazin hatte ich inzwischen gelesen. Mehrmals. Ich hatte sogar angefangen die Anzahl der Wörter im ganzen Heft zu zählen, eine Tatsache, für die ich mich in Grund und Boden schämte. Auch in diesem Moment saß ich auf Siennas Bettkante und starrte sinnbefreit an die Wand. Beinahe glaubte ich, eine rettende Idee würde dort erscheinen und mir einen Grund geben, meinen Hintern zu bewegen.

In nur zwei Wochen hatte ich hier in England zugenommen. Das lag ganz sicher nicht am Kantinenessen, das angeblich von Sterneköchen zubereitet wurde, jedoch schmeckte, wie von der anatolischen Küstenratte. Die zusätzlichen Kilos kamen wohl eher durch mangelnde Bewegung, denn davon hatte ich genug!

Seufzend rollte ich von Siennas Bett herunter und landete unsanft auf dem Boden. Dieser war allerdings so staubig, dass ich binnen Sekunden anfangen musste zu niesen. Erschrocken sprang ich auf und rannte ins Badezimmer, um mir einmal gründlich Wasser ins Gesicht zu spritzen. Im angeschlagenen Badezimmerspiegel blickte mir ein zerknittertes Mädchen entgegen mit fahler Haut und traurigen Augen. Keine Beautyqueen und kein Sternchen der Upper East Side war mehr zu erkennen.
„Was hat dieses Internat nur aus dir gemacht?", murmelte ich der einstigen Schönheit entgegen und wickelte dabei ein Haargummi von meinem Handgelenk, um mir einen fransigen Pferdeschwanz zu binden. Das Ergebnis war erschreckend und ich wäre bei meinem Anblick am liebsten in Tränen ausgebrochen.

Nichts da!
Trotzig wischte ich mir die kleine glitzernde Träne aus dem Augenwinkel. Ich war eine New Yorkerin, die ließen sich nicht so leicht unterkriegen, auch nicht von ein paar Provinzlern! Und ich würde auch nicht weiter tatenlos mit ansehen, wie Appleville mich in die Knie zwang.

Entschlossen stemmte ich mich am Waschbecken auf, stürzte in den Schlafbereich und schnappte mir mein Handy. Der Akku war noch voll, kein Wunder, es hatte bisher nur im Sperrmodus verbracht. Ich schaltete es ein und öffnete wie selbstverständlich Instagram, nur um die App ganz schnell wieder zu schließen. „Verdammt, Autumn! Konzentration!", rief ich mich zur Ordnung. Nach einem kurzen Blick aus dem Fenster, klemmte ich mir sicherheitshalber eine dünne Strickjacke unter die Arme. In England schlug das Wetter häufig plötzlich um, das hatte ich schon am eigenen Leib erfahren müssen.

Bewaffnet mit Handy, Jacke und eisernem Willen betrat ich den ruhigen Flur. Zur Mittagszeit zogen sich die meisten Schüler in die Bibliothek zurück oder in das Café auf dem Campus. Kaum jemand verbrachte seine Freizeit auf dem Zimmer. Während ich den Flur entlang marschierte, hielt ich das Handy in alle Richtungen von meinem Körper entfernt. Sal hatte mir bei meiner Ankunft erklärt, es gäbe keinen Empfang auf dem gesamten Campus. Doch was, wenn sie falsch lag? Es konnte doch sein, dass es eine kleine Stelle gab, an welcher man Kontakt zur Außenwelt aufnehmen konnte. Sal konnte doch schließlich nicht alles wissen. Möglicher Weise könnte Sal diese Information auch für sich behalten haben, um das strenge Regime meiner neuerdings so überfürsorglichen Eltern aufrecht zu erhalten. Was auch immer der Fall war, ein Versuch, einen kleinen Flecken mit Empfang zu finden, war es wert.

#grl_pwr, oder wie man ohne Wlan überlebtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt