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Ich war selbst schuld. Meine Teilnahme an diesem Poetry Slam war freiwillig. Naja, mehr oder weniger. Schließlich hatte das Schicksal mich geradezu in die Ecke gedrängt. Irgendwie gefiel mir der Gedanke, das Universum trüge Schuld an meinen Problemen. Und meine Probleme? Die bestanden aus einer Gothik- Tante in schwarzem Nylonkleid, einem Typen mit unsagbar großem Hut, einem gruseligen Zwillingsgespann, das alle Verse abwechselnd vortrug und einer Hippie- Diva mit bunten Rastalocken und einem T- Shirt, dessen Mitte eine grüne Krähe zierte. Alle trugen dramatisch ätzende Gedichte und Lieder vor. Gebt mir die Kugel!
Seit über zwei Stunden saß ich eingequetscht neben Susan und einer anderen molligen Schülerin. Eine von ihnen roch stark nach Schweiss.

Ständige Jubelrufe begleiteten extatisch die Vortragenden, während ich immer weiter in meinem Klappstuhl versank. Was hatte ich mir nur dabei gedacht?
Oh, Autumn, es wäre doch ganz nett sich deinen Zimmergenossinnen anzuschließen.
Oh, Autumn, das wird bestimmt gar nicht so schlimm.
Oh, Autumn, das ist ein Stück Kultur, echte Kunst.

Wieso waren diese Künstler alle so traurig? Sie hatten niemals ein so bescheidenes Schicksal wie ich im Moment, daher brauchten sie sich überhaupt nicht zu beschweren.
Und diese Verse ergaben keinen Sinn!
Miss Gothik schwafelte zu Beginn etwas von Wasser, Feuer und innerem Frieden. Bei den anderen "Künstlern" hatte ich schon gar nicht mehr zugehört. Das war dann deutlich besser für meinen inneren Frieden.

Ungläubig schielte ich an Susan vorbei zu Sienna, die beide mit glänzenden Augen das Geschehen auf der Bühne des Theatersaals verfolgten. Regelmäßig begannen sie zu applaudieren. Applaus für so lausige Vorträge?
Mein Blick irrte weiter über die Sitzplätze vor und hinter mir. Sie alle starrten gespannt nach vorne. War ich tatsächlich die einzige im Publikum, der diese ganze Farce missfiel?
„Europäer!", murmelte ich verächtlich. Diese Banausen vermiesten mir noch den ganzen Abend.

Wieder tosender Beifall. Ein weiterer Beitrag hatte soeben geendet. Hoffentlich der Letzte. Der aufgekratzte Moderator in Jogginghosen (!) betrat daraufhin mit einem Sprung die Bühne und klatschte aufgeregt mit einer Hand auf das Mikrofon, welches er mit sich trug um Gedicht, wie auch den dazugehörigen Verfasser anzukündigen.
„Ein ganz starkes Werk von Lissie Wellington. Ich bitte um Applaus für ihre Onomatopoesie."
Onoma- was?
„Der heutige Abend neigt sich dem Ende zu, aber ich habe noch einen Leckerbissen für euch. Spontan hat sich unser hoch geschätzter Schülersprecher dazu entschlossen, uns durch eines seiner Kunstwerke zu unterstützen. Deshalb jetzt, live und in Farbe, unser einzigartiger Javor Even!"

Die Menge konnte sich nicht mehr halten. Einige Mädchen sprangen sogar von ihren Plätzen auf und kreischten sich die Seele aus dem Laib.
Noch ein Teilnehmer? Nahm dieser furchtbare Abend denn nie ein Ende?
Auch Susan stupste mich kräftig mit dem Ellbogen an und auf Grund der starken Bewegung, konnte ich den Geruch von Schweiss eindeutig ihr zuordnen.

„Javor ist richtig cool. Er ist nicht nur Schülersprecher und Jahrgangsbester, sondern wirklich gutaussehend", quiekte sie ungewohnt schrill. Ich massierte schonmal vorsichtshalber meine Schläfen. Hoffentlich war sein Gedicht ein Elfchen!

Doch das von mir so ersehnte Wunder geschah. Dieser Javor betrat die Bühne und sofort hatte er meine ganze Aufmerksamkeit. Der Typ war ziemlich groß aber nicht drahtig. Seine Figur war eher muskulös, was sich unter seinem weißen Hemd gut sichtbar abzeichnete. Mit seinen Händen, kräftig und natürlich braun, fuhr er sich neckig durch sein dunkles Haar. Des Weiteren trug er eine Brille, die ihm unglaublich gut stand, denn sie verlieh ihm dieses akademische Etwas. Zu dunklen Hosen hatte er lässig Turnschuhe kombiniert und als er letztlich nach dem Mikrofon griff und die Halterung seiner Größe anpasste, hatte ich mich schon weit aus meinem Stuhl vorgelehnt.

Eine angespannte Stille legte sich über das Theater. Alle Augen waren auf Javor gerichtet. Etwas zog die Menge, mich eingeschlossen, magisch in seinen Bann.
„Guten Abend."
„Wow!"
Hatte ich das etwa gerade laut gesagt? Egal, niemand bemerkte mich. Javor war der Mittelpunkt.
„Das ist mein erstes Mal auf einer Bühne und eigentlich bezeichne ich mich nicht als großartigen Poeten, aber auch mir schießt des Öfteren der ein oder andere Gedanke durch den Kopf. Heute habe ich ein kleines Gedicht mitgebracht. Ich hoffe es gefällt euch."

#grl_pwr, oder wie man ohne Wlan überlebtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt