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Langsam brach die Dunkelheit über Appleville herein. Bald würde die Aufsicht den Gong zur Sperrstunde schlagen, doch ich dachte nicht daran, mich in mein Zimmer zu begeben. Seit über vier Stunden schlich ich über den weitläufigen Campus. Das ist das Gute, wenn man von der Schule verwiesen wird: man kann so viele Regeln brechen, wie man will. Was sollte mir denn noch großartig passieren? Eine Tracht Prügel mit dem Rohrstock? England lag ja weit hinter Amerika, was Modernität betrifft, doch so altmodisch schätzte ich nicht einmal die Briten ein.

Ich war allein mit meinen Gedanken und das beängstigte und beruhigte mich zugleich. Nach meinem tränenreichen Moment mit Javor, der mir beinahe zärtlich ein Gefühl der Sicherheit gegeben hatte, musste ich doch früher oder später in der harten Realität ankommen. Ich würde am Montag von der Schule fliegen. Mein Flugticket war sicher schon gebucht worden und in wenigen Tagen wäre ich zurück in New York. Zurück bei Amina. Ich würde mein altes Leben wiederhaben, auch wenn ich mit ziemlicher Sicherheit sagen konnte, dass meine Eltern wahnwitzige Konsequenzen ziehen würden, wenn ich nach Hause käme. Doch das war es doch gewesen, was ich mir die letzten Monate so sehnlichst gewünscht hatte: weg von dieser verfluchten Insel.
Wenn ich mir das so sehr gewünscht hatte, warum fühlte es sich dann nicht richtig an?

Wortlos hatte ich Javor den Rücken zugedreht, als meine Tränen langsam versiegten und mein Körper nicht weiter durch hemmungsloses Schluchzen geschüttelt wurde. Ich konnte nicht länger ertragen, dass er mich so zu sehen bekam. Die Autumn die er kennengelernt hatte war selbstbewusst, vorlaut und wirklich alles, aber kein bemitleidenswertes Ding das ständig in Tränen ausbrach. Es wäre viel besser, würde er mich so in Erinnerung behalten, wenn ich erst einmal auf und davon war. Ja, ich war bis über beide Ohren total in Javor verknallt. Doch gerade in der letzten Zeit hatte ich so ein gutes Gefühl entwickelt. Langsam aber sicher hätten wir uns bestimmt auf eine Freundschaft zubewegt, wenn nicht...
Ja, mein Gott, wenn ich mich nicht so bescheuert angestellt hätte. All die Freundlichkeit, die Sal, meine Zimmergenossinnen und Javor mir entgegengebracht hatten. Ich hatte ihnen förmlich ins Gesicht gespuckt. Und jetzt stand ich wieder alleine da.
So ist es wohl, das Leben der Autumn Nicholson. Voller Drama und zerplatzter Träume und am Ende jedes Abschnittes beginnt sie wieder von vorne.

Einmal aufs Neue hatte ich das imposante Gebäude des Internats über seine Grünflächen umrundet. Schnaufend blieb ich stehen, stemmte die Hände in die Hüften und schaute vorwurfsvoll in den dunkler werdenden Himmel. Heute hatte es nicht geregnet und nicht eine Wolke war weit und breit zu sehen. Ist das nicht frech? Es schien mir beinahe so, als wäre das ganze Vereinte Königreich froh über meine baldige Abreise. War schön mit dir, kleine Autumn. Aber noch schöner ist es, dass du uns wieder verlässt. Haha.

Hätte ich doch irgendetwas am Himmel sehen können, dem ich die Schuld an meinem Schlamassel hätte geben können. Doch ich sah nur den ersten aufblitzenden Stern und sofort verachtete ich ihn. Wie konnte er nur so fröhlich vor sich hinfunkeln, während für mich alles zerstört war? Das Leben konnte so ungerecht sein!

Frustriert machte ich mich auf zu einer nächsten Runde um Appleville. Es wurde merklich kühler und ich schlang die Ärmel meiner Strickweste fester um mich. Selbst ein Eisregen hätte mich nicht dazu gebracht zurück in mein Zimmer zu gehen. Meine reizenden Zimmergenossinnen hätten mich sowieso weiterhin ignoriert und sich insgeheim über mein Scheitern amüsiert. Vielleicht hätte Susan auch wieder mit mir geredet. Aber auf Mitleid konnte ich herzlich gern verzichten.
Allerdings freute ich mich schon ein bisschen auf die Nachtaufsicht, wenn sie mein leeres Bett bemerkten. Wahrscheinlich würden sie fuchsteufelswild den gesamten Campus auf den Kopf stellen und mir eine ordentliche Standpauke halten, sobald sie mich hier draußen entdeckten. Beinahe musste ich schmunzeln beim Gedanken an Mrs. Norrison in ihrem geblümten Nachthemd und einem Häubchen auf den krausen Locken, wie sie mich hinter sich ins Internat zurück schleifte. Leider fehlte meiner Situation jegliche Komik. Schnaubend stapfte ich weiter über die Grünflächen und achtete sorgsam darauf, so viel des fein säuberlich gestutzten Rasens zu zertrampeln wie nur irgend möglich.
Zwar könnten sie meine Person loswerden, doch ich würde wortwörtlich meine Spuren hier hinterlassen.

#grl_pwr, oder wie man ohne Wlan überlebtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt