Yori

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Zurück in New York mache ich auf dem Heimweg vom Bahnhof einen Stopp beim Supermarkt um meine Vorräte aufzufüllen, die ich in meinem Apartment dann zusammen mit dem Gepäck vom Trip zu Sam verräume. Anschließend mache ich mir ein schnelles Abendessen und gehe duschen.

Als ich aus der Dusche trete, fällt mein Blick auf mein Handy. Sollte ich Sam anrufen? Ich würde gerne seine Stimme hören, aber irgendwie war der Sinn des Ganzen ja auch dass wir erstmal noch auf Abstand gehen.

Ich schüttle von mir selbst genervt den Kopf, trockne mich ab und lasse mich auf den Sessel vor dem Röhrenfernseher fallen. Ich will gerade die Nachrichten anschalten, als meine Augen wieder zum Handy wandern.

Ich sehe sein Gesicht vor mir, seine wunderschönen Augen, sein stets spielerisch genervtes Gesicht, seine vollen Lippen... Stopp! Es gibt einen Grund warum das jetzt nicht geht, es gibt einen Grund warum ich wieder in New York bin! Ich muss Wiedergutmachung leisten, damit es mir endlich besser geht. Nein, nein. Falsche Herangehensweise. Mir fallen Sams Worte wieder ein:

"Bucky, du hast keine Wiedergutmachung geleistet. Du hast Rache geübt. Du musst dich auf die Leute konzentrieren, die du verletzt hast. Suche jemanden, dem du zumindest helfen kannst, mit etwas abzuschließen."

Und ich merke was ich hier tue: ich versuche es aufzuschieben. Sam hat recht, es geht hier nicht mich, nicht um meine Rache, nicht darum, dass ich mich besser fühle. Ich muss für die Leute da sein, denen ich so viel Schmerz zugefügt habe. Und ich sitze hier in meinem armeseligen kleinen Sessel und suhle mich im Selbstmitleid. Diese Leute haben Besseres verdient.

Ich richte mich auf, ziehe mir saubere Kleidung an und trete aus der Tür meines Apartments. Mein Blick fällt auf die Tür gegenüber. Yoris Tür. Yori, der mein engster Freund in New York geworden ist, der versucht hat, mit der netten Bedinung in unserem Lieblingsrestaurant zu verkuppeln und der auch Vater des Jungen ist, von dessen schrecklichem Tod ich fast jede Nacht Träume. Ich mache einen Schritt auf die Türe zu, hebe meine Hand um zu klopfen und höre wieder das Klackern. Und der junge Mann, fast noch ein Junge steht wieder vor mir und bettelt mich an, ihn zu verschonen.

Und dann treffen meine geballten Finger auf die Tür; ich atme laut aus und zischend wieder ein, als ich nach kurzer Zeit höre, wie sich Schritte der Wohnungstüre von innen nähern und sie öffnet sich.

Yori steht vor mir, und der ich habe einen riesigen Kloß in meinem Hals.

"James?... was machst du denn hier?"

Ich schaffe es einfach nicht, zu antworten, sehe ihn nur hilflos an. Er scheint zu merken, dass es wichtig ist.

"Es ist schon spät, komm rein bevor jemand die Cops ruft."

Vorsichtig betrete ich die Wohnung und komme mir dabei vor, als würde ich mit jedem Schritt meine Tat noch schlimmer machen, als würde ich seine Freundschaft ausnutzen, obwohl ich ihm die Wahrheit sagen möchte.

Mein Blick fällt an die Wand des kleinen Raums, an der Yori eine Gedemkstätte für seinen Sohn eingerichtet hat, dessen Lachen mir aus einem Foto entgegenstrahlt. Ich muss schwer schlucken. Ich lebe schon seitdem ich wieder Herr meiner Sinne bin mit diesen Schuldgefühlen, aber nie habe ich mich so direkt mit ihnen emotional auseinandergesetzt, nie zuvor habe ich mich mit der Familie meines Opfers konfrontiert gesehen. Und nun, da ich es endlich tue, sind die Furien der Schuld fast überwältigend.

Doch dann erinnere ich mich an Sams Worte: das war nicht ich. Das war der Winter Soldier. Und so schrecklich es auch war, was er getan hat, und so sehr mich seine Erinnerungen auch verfolgen, habe ich die Brutalität doch nicht zu ausgeübt. Wohl aber, muss ich mich mit den Folgen seines Handelns auseinandersetzen. Ich atme tief durch und sehe Yori nun endlich wieder an.

"Ich... ich muss dir was sagen... über deinen Sohn."

Yori zieht verwirrt und etwas misstrauisch die Augenbrauen zusammen, lehnt sich zurück gegen die Tischkante.

Nochmal tief durchatmen, Barnes. Langsam ziehe ich den Lederhandschuh von meiner Linken und rede weiter:

"Er wurde ermordet."

"Was?"

"Von dem Winter Soldier..."

Die nächsten Worte fallen mir so schwer wie noch keine zuvor. Die Furien kommen zurück und mein Gesicht verzeiht sich gequält.

"...und das war ich."

Yori scheint erst nicht zu begreifen, dann sieht er mich geschockt an, während sich Tränen in seinen Augen bilden.

"Wieso?"

"Ich hatte keine Wahl."

Und dieses Mal ist es das erste Mal, das ich mir diese Worte auch glauben kann. Dass ich ihre Bedeutung vollends verstehe. Ich hatte keine Wahl. Diese Erkenntnis macht meine Taten nicht ungeschehen, aber lässt mich eine gesunde Distanz zu ihnen wahren, und ich kann meine Person, mich, James Buchanan Barnes, endlich wieder getrennt vom Winter Soldier sehen, und das ist unglaublich befreiend. Trotzdem muss ich diesen James erst einmal erneut kennen lernen.

Ich bleibe noch etwas bei Yori, merke aber bald, dass er vor allem Zeit für sich braucht. Ich versichere ihm, dass ich immer für ein Gespäch, sollte er denn eines mit mir suchen wollen, bereit wäre und dass ich, auch wenn er mich nicht mehr sehen wollen würde, mich an seine Bedingungen halten würde. Leise verlasse ich die Wohnung.

Winterfalcon - wie du mir; so ich dirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt