Sehen oder Erkennen

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Es ist schon erstaunlich. Dafür, dass ich meine Umgebung konstant ausblende und mich an keine der trivialen Begegnungen erinnern kann, die ich über den Tag so ertragen muss habe ich erstaunliche Reflexe.

Ausdruckslos sehe ich zu dem Jungen hoch, der direkt vor meiner Nase gegen die Spinde geworfen wurde. Fast wäre ich zwischen ihm und den Spinden gewesen. Kurz treffen sich unsere Blicke, dann fängt er sich schon die nächste und geht zu Boden. Um seiner Hand, die nach Halt sucht auszuweichen trete ich einen Schritt zurück und den beiden Platz für ihren vermutlich völlig unnötigen Konflikt zu lassen. Ein weiterer Junge steht jetzt zwischen uns, über dem ersten Jungen. Der Angreifer sieht mich über die Schulter hinweg an.

„Sorry, war echt nicht meine Absicht dich zu treffen." meint er schwer atmend und widmet sich dann wieder dem Jungen am Boden und seinen kläglichen Versuchen aufzustehen.

Etwas achtsamer als sonst umrunde ich die beiden und setze dann meinen Weg fort. Die Kopfhörer in meinen Ohren verhindern, dass ich auch nur im Geringsten mitbekomme wie diese Auseinandersetzung weiter geht und ich bin ihnen dankbar darum.

Diese Gesamtschule ist schon ein obskurer Ort. Ein Topf, in den man alles rein schmeißt, was das kleine Ein-mal-eins wenigstens teilweise beherrscht. Nebenbei ein hässlicher Topf. Schlecht im Stand und gefahrlaufend, jede Sekunde zusammen zu brechen.

Mit zusammengezogenen Augenbrauen werfe ich einen Blick zu einer Wand im Flur, die von einem Riss durchzogen ist. Dieser Riss war schon da, als ich vor 3 Jahren auf diese Schule gekommen bin. Er ist nur gewachsen.

An einigen Stellen des Risses sind Markierungen. Die Abschlussklassen machen, wenn sie gehen einen Strich da, wo der Riss zu diesem Zeitpunkt aufhört. Sie schreiben dann auch das Jahr dazu. Der erste Eintrag ist von 1997 und relativ mittig an der Wand. Mit den Jahren hat sie der Riss mehrfach geteilt und vermutlich werden auch die nächsten 20 Jahre noch alle Jahrgänge einen Platz finden. Sollte die Schule bis dahin nicht eingestürzt sein.

Ich gehe weiter und versuche, die losen Bodenplatten zu meiden, jedoch ohne wie eine Balletttänzerin auf Drogen durch den Flur zu springen. Ich hasse es, keinen festen Stand zu haben.

Im übrigen ist diese Schule ein Drecksloch. Die Toiletten im zweiten Stock sind kaum benutzbar, da jegliche Form von Fenstern fehlen und es entweder kalt, nass oder voll mit Blättern ist.

Draußen vor dem Fenster zu den Badezimmern steht eine große Eiche. Eher eine riesige Eiche. Mit dicken, weit verästelten Ästen. Oft wehen Blätter der Eiche herein.

Man könnte praktisch aus dem Badezimmerfenster klettern und an den dicken Ästen runter klettern. Was anscheinend einige Schüler machen, wenn sie schwänzen wollen, da die Türen mit Kameras überwacht werden. Ein unnötiger Kraftakt, da die Auflösung dieser Kameras... naja... man kann die Pixel zählen, ohne Kopfschmerzen zu bekommen.

Der Unterricht beginnt tendenziell 10 bis 15 Minuten zu spät. Ich bin trotzdem jeden morgen pünktlich da.

"Guten Morgen, Klasse." grüßte Frau Niedermeier mit schwerem brandenburger Dialekt.

Sie geht auf die 66 zu und hat einen Countdown auf ihrem Handy, wie viele Tage, Stunden und Minuten sie noch hier sein muss, bis sie endlich in Pension gehen kann. Dementsprechend ist ihre Arbeitsmoral.

Sie schreibt eine Hand voll Seiten und Aufgaben an die Tafel und das ist der komplette Inhalt dieser Mathestunde. Der Rest ist Hausaufgabe. Wenn ihr die Aufgaben im Buch ausgehen, kopiert sie uns entweder Aufgaben, aus anderen Mathebüchern oder aus dem Internet. Das einzig verwunderliche daran ist, dass sie weiß, was das Internet ist.

Wie üblich setzen sich 7 bis 8 Leute, zu denen ich auch zähle, zusammen, um gemeinschaftlich irgendwie heraus zu kriegen, wie diese Aufgaben funktionieren. Google hilft. Auch, wenn jede Suche zwischen 5 und 15 Minuten dauert. Internet in Deutschland ist... ausbaufähig.

VermutlichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt