Am nächsten Tag sieht er mehr tot als lebendig aus. Er hat Augenringe, seine Haltung ist noch schleppender als sonst und er reagiert kaum auf Versuche der Kontaktaufnahme. Mit anderen Worten, er ist fast erträglich. Wenn er sich nicht stur weigern würde mir zu sagen, was mit ihm los ist. Es ist Anfang Oktober, aber an mangelndem Sonnenlicht scheint es nicht zu liegen. Die Tage sind schon seit über einer Woche trüber.
„Die ersten Klassenarbeiten stehen bald an. Wir sollten uns wieder mehr aufs lernen konzentrieren." komme ich auf ein anderes Thema, da ich beim alten eh nicht weiter komme.
„Yay." antwortet er matt und lässt den Kopf nach hinten fallen.
„Ich sehe keine größeren Schwierigkeiten, das meiste kannst du bereits und keiner von uns beiden erwartet, dass du eine 1 schreibst." argumentiere ich ebenfalls ohne besondere Tonlage.
Wir beide scheinen in alte Muster zurück zu fallen. Wer hätte es erwartet, Menschen ändern sich nicht.
„Und wieso tun wir das nicht? Denkst du, ich bin zu dumm um ne 1 zu kriegen?" jetzt ist er provokant und lehnt sich vor.
Irritiert sehe ich auf. Versucht er gerade zwanghaft einen Streit vom Zaun zu brechen?
„Wir beide denken das." antworte ich wahrheitsgemäß.
Er atmet spöttisch aus und lässt sich wieder zurück in den Stuhl fallen. Den Blick wendet er kurz ab.
„Ja, klar, stimmt. Ich hab vergessen, dass weder ich noch irgendwer anders mir irgendwas zutraut. Danke, dass du das herausgestellt hast."
Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Er verhält sich kindisch. Soll ich auf seinen Streit einlassen? Geht es ihm danach besser oder macht das alles schlimmer? Soll ich irgendwas empathisches sagen? Was wäre das überhaupt?
„Ich traue dir eine 2 zu. Das ist besser als der Durchschnitt, reicht dir das nicht?"
Ich lege ein Sammlung von Kurzgeschichten zur Seite. Vermutlich sollte ich dem hier meine volle Aufmerksamkeit schenken.
„Wieso sollte ich mich mit irgendwas schlechterem als der Bestnote zufrieden geben? Solltet ihr mir nicht sagen, dass es nichts gibt, was ich nicht erreichen kann?"
'Ihr'? Plural?
„Wo kommt dieser Ehrgeiz her? Das letzte Jahr musstest du wiederholen, wenn ich mich recht erinnere."
Wieso habe ich das Gefühl, dass ich das nicht hätte sagen sollen?
„Ach, jetzt darf ich keinen Ehrgeiz mehr haben? Wenn du der Ansicht bist, ich kann nichts anderes sein als ein miserabler Schüler, warum verschwendest du dann deine Zeit mit mir?"
Ah, deswegen. Ich habe Talent als Vorhersager von negativen Ereignissen, nachdem sie ausgelöst wurden. Auf jeden Fall fängt er an mich zu nerven.
„Würdest du dich bitte wieder fangen? Ich weiß nicht, wer dir gestern noch den Tag vermiest hat, aber tu mir den Gefallen und lass es nicht an mir aus. Entweder rede mit mir drüber oder sei still." sage ich kälter als beabsichtigt und sehe ihn direkt an.
Er steht auf, greift seinen Rucksack und verschwindet durch die Tür. Das war die unnötigste Unterhaltung, die ich seit langem hatte. Zuerst friert die Hölle zu, bevor ich ihm hinterher laufe, wie ein rolliger Hund.
„Ah, Jennifer, du bist das!"
Ich hätte ihm folgen sollen. Wie viele falsche Entscheidungen soll ich heute noch treffen? Entnervt drehe ich mich zur Tür. Dort steht das Weib, dem ich vor wenigen Wochen noch Beziehungstipps gegeben habe. Wieso bei den Göttern kennt sie meinen Namen?
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Vermutlich
Roman pour AdolescentsJennifer interessiert sich nicht groß für andere Menschen. Adrian hat nichts interessantes an sich. Allerdings kann selbst sie sich nicht dazu bewegen die Narben an seinem Unterarm zu ignorieren. Und in einer kleinen, versifften, rechten Stadt umgeb...