Kapitel 4

84 7 1
                                    

Es war spät in der Nacht. Dabi hatte dich mit sich geschleppt nach draußen, um nach weiteren Rekruten zu suchen. Er meinte, dass wenn er bereits in der Stadt wäre und erst in ein paar Tagen zurückkehren könne, es sinnvoller wäre, nach mehr Verbündeten zu suchen.
Es war kalt. Ungeheuerlich kalt und zu dem warst du unbeschreiblich müde. Du vermutest, dass die Überanstrengung deiner Spezialität am Abend davor dich einfach komplett ausgelaugt hatte und du dich noch immer nicht ganz ausruhen konntest.
Wie lästig.

"Darf ich dir was sagen?", Dabi sah geradeaus und wartete auf eine Reaktion von dir.
"Was denn?"
"Du siehst absolut beschissen aus. Was ist los?", ein kleiner Seitenblick und wieder direkt geradeaus. Ein Blick der so gleichgültig war, wie alles andere für ihn. Nur schwang in seinem Unterton etwas mit, was selbst dich überraschte. War es Besorgnis?
"Du sagst ich seh beschissen aus?", spuckst du mit einem sarkastischen Unterton heraus. Dabi gab ein Grunzen von sich. Seine Mundwinkel zuckten etwas. Er verstand was du meintest.
"Ich meine ja nur", er steckte Hände tiefer in seine Manteltaschen. Der Mantel war schon unglaublich zerfetzt. Du konntest dir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er ihn zu solchen Jahreszeiten warmhalten würde. Um ehrlich zu sein schien es ihn nicht mal zu interessieren, denn unter dem Mantel trug er lediglich ein weißes T-Shirt, eine schwarze Jeans und ein paar Schuhe, die auch nicht dein Eindruck hatten, als würden sie ihn wirklich warmhalten. Dabi's Auftreten in einer solch kalten Jahreszeit machte den Eindruck, als würde er es geradezu provozieren zu erfrieren.
Entweder das, oder es machte ihm einfach nichts aus.

"Was starrst du mich so an?", fragte er und sah dich dieses Mal direkt an.
"Ich habe gerade nur nachgedacht", sagst du bloß.
"Du? Nachgedacht?"
Du nimmst den Mundschutz für einen kurzen Moment von deinem Gesicht und steckst ihm die Zunge heraus. Dabi rollte bloß mit den Augen.
"Du denkst wirklich, dass man dich mit dem Mundschutz weniger entdecken wird?", er klang geradezu belustigt.
"Für normale Bewohner der Stadt, ja. Für die Helden? Natürlich nicht." Du ziehst deinen Kopf etwas tiefer in den Kragen deines Hoodies und die Kapuze fiel dir etwas tiefer ins Gesicht. "Aber das Ding gibt mir einfach ein kleines Gefühl der Sicherheit, schätze ich."
Dabi nickte, als würde er deine Gefühle nachvollziehen können.

Und so schlendert ihr weiter durch die Straßen Tokyos. Sie waren überfüllt wie eh und je.

"Wie machst du dieses Suchen nach neuen Rekruten eigentlich?", versuchst du etwas die Situation mit einem kleinen Tratsch zu lockern.
"Da hat's kein wirkliches Muster dahinter", sagte er.
"Du läufts also nur rum und siehst dich nach irgendwelchen Verbrechern um, sprichst sie an und heuerst sie für eure Band an?"
Er gab ein leises Grummeln von sich. "Bisher ist noch keiner der Leute, denen ich begegnet bin, so weit gekommen, dass sie es zu unserer Gruppe geschafft haben."
"Wurden sie alle davor geschnappt?"
"Nein", er schüttelte den Kopf und grinste vor sich hin. "Ich hab sie davor alle umgebracht."
Geschockt bleibst du stehen und starrst ihm mit weit offen stehenden Mund nach.
Es dauerte einen Moment, bis er merkte, dass du nichtmehr an seiner Seite liefst. Irritiert drehte er sich um und deutete mit seinem Kin weiter nach vorne.

"Was soll das? Komm. Wir müssen weiter", er griff nach deiner Hand und zog dich weiter. Aus Reflex zuckst du zusammen und entziehst deine Hand schnell aus seiner. Dabi schien deine Reaktion nicht zu wundern. "Wir müssen weiter", wiederholte er.
"Das hattest du schon gesagt", murmelst du und läufst mit ihm weiter. Und da war sie wieder.
Diese Stille zwischen euch.
Diese beschissene Stille.

Es bestand kein Zweifel. Dabi würde dich bei der leisesten Bewegung wie alle anderen vor dir einfach umbringen. Er würde es einfach tun und später mit einem anderen vermutlich genauso darüber grinsen, wie er es eben bei dir getan hat. Es würde ihn nicht interessieren, dass er das Leben einer jungen Frau auf dem Gewissen hat. Schurkin oder nicht. Seines Gleichen oder nicht. Er machte keine Unterschiede.
Würde eine Möglichkeit bestehen zu überleben, wenn du jedoch einfach verschwinden würdest? Mitten in der Nacht? Er würde immerhin nichts bemerken und wenn doch, dann wärst du dank deiner Spezialität schon längst über alle Berge. Jedoch schien er intensiv auf der Suche nach dir gewesen zu sein. All die Steckbriefe, die Informationen über dich. Er würde dich bestimmt eines Tages wieder finden und umbringen. Warst du denn überhaupt stark genug dich ihm zu behaupten? Deine Spezialität schien ihn ja ziemlich wenig interessiert zu haben neulich.

"Deine Überlebenschance steigen, wenn du mit jemand zusammenarbeitest. Du brauchst jemanden, Y/N."

Das waren seine Worte bei eurem ersten Gespräch gewesen und du konntest nicht abstreiten, dass es nicht die Wahrheit war. Dadurch, dass so gut wie alle Schurken heutzutage in Gruppen unterwegs waren, erschwerte es dir allein einen Raubzug durchzuführen. Irgendwann hätten die Schurken sich so weit entwickelt, dass deine Handlungsmöglichkeiten komplett eingeschränkt wären und du als Alleingänger am Ende wärst.
Dabi hatte Recht.
Du brauchst ihn.
Du brauchst ihn, um zu überleben.

'Wenn er noch bei mir wäre...wäre es weniger kompliziert geworden...'

Deine Gedanken schweiften zu dem Jungen, der dir an einer kalten und stürmischen Nacht wie dieser in der verlassenen Fabrik begegnet war. Die Fabrik, die dir seit langer Zeit als Unterschlupf gedient hatte. Der Junge, der mit dir für eine lange Zeit durch dick und dünn gegangen ist. Der Junge, der dir Hoffnung gab. Der Junge, dem du vertrauen konntest. Der Junge, der vor deinen Augen umgebracht wurde.

"Hör auf so zu Tagträumen", tadelte dich Dabi und stieß dich mit seinem Ellenbogen an. "Wenn du so weitermachst, kommst du genauso weit, wie die anderen. Nur bin nicht ich der Grund, weshalb du abkratzt."
Verwirrt blinzelst du, als er dich wieder in die Realität holte. "Entschuldige, ich habe gerade nur etwas nachgedacht."
"Schon wieder?"
Du nickst.
"Hast du darüber nachgedacht, wo wir anfangen könnten zu suchen?", fragte er.
"Hm?", fragend hebst du eine Augenbraue. "Du hast keine Ahnung, wo du anfangen sollst?"
Schmunzelnd schüttelte er den Kopf.
Du seufzt und beobachtest, wie die kleine Wolke, die durch deinen warmen Atem entstanden ist, nach und nach wieder verblasst. Nachdenklich reibst du deine Hände aneinander und hoffst auch, dass dir dadurch wärmer wird. Dabi beobachtete dich die ganze Zeit aufmerksam und bemerkte deine Schwäche, aber sagte nichts, noch machte er Anstalten dir zur Hand zu gehen.

"Ich kenne da vielleicht ein Eck", beginnst du und Dabi hörte dir aufmerksam zu. Nur wird es nicht so einfach, wie wir uns das vielleicht vorstellen."

Twin FlamesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt