Kapitel 6

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Ich traute meinen Augen nicht. Verwirrt runzelte ich meine Stirn und blinzelte mehrmals, um zu verstehen, dass die Person vor mir keine Einbildung war. Lässig lehnte meine beste Freundin in Jeans, T-Shirt und Lederjacke bekleidet, an der Couch im Wohnzimmer. Ihre rötlichbraune Lockenmähne fiel ihr locker über die Schultern und ihre haselnussbraunen Augen strahlten mich an.

Das musste ein schlechter Scherz sein. Tagelang war sie nicht erreichbar und jetzt stand sie nur wenige Meter vor mir. Was machte sie hier? Perplex stand ich da und war unfähig, etwas zu sagen.

Meine Tante unterbrach schließlich Stille. „Ich denke ihr habt euch viel zu erzählen. Deshalb schlage ich vor, ihr geht hoch in dein Zimmer Alicia und dort unterhaltet ihr euch ein wenig. Ich rufe euch dann zum Essen. Ach und nehmt doch gleich Rubys Koffer mit nach oben." Erst jetzt fiel mein Blick zu dem großen Koffer, der neben Ruby stand.

In meinem Zimmer angekommen setzte ich mich auf das Bett und sah meine beste Freundin erwartungsvoll an. Nachdem Ruby ihr gesamtes Gepäck in einer Ecke des Zimmers verstaut hatte, wanderte ihre Aufmerksamkeit zu mir. Sorgenvoll fuhren ihre haselnussbraunen Augen über mich, bis sie an meinen geröteten Augen hängen blieben. „Ali, was ist los? Und jetzt sag mir nicht, dass alles in Ordnung ist. Ich sehe an deinen geröteten Augen, dass du geweint hast", fragte sie mich mit voller Sorge in der Stimme. Nervös biss ich auf meine Unterlippe und senkte meinen Blick zu Boden. War ich denn bereit, ihr alles zu erzählen?

Aufgelöst versuchte ich ein paar klare Gedanken zusammenzufassen, denn in meinem Kopf herrschte noch immer das reinste Chaos. Hart schluckte ich, bevor ich zu sprechen begann. „Um ehrlich zu sein, geht es mir nicht gut. Ich glaube, dass ich verrückt werde.", gab ich etwas hysterisch von mir und fuhr mir verzweifelt durch mein Haar. „Wieso solltest du verrückt werden? Ali, was ist passiert??", hakte meine beste Freundin nach.

Tief atmete ich ein, bevor ich zögernd begann, ihr von meinen bisherigen Erlebnissen zu berichten. Ich beschrieb alles bis ins kleinste Detail, während Ruby mir aufmerksam zu hörte.

Es tat so gut mit jemanden über alles zu reden. Und mit jedem Wort, das mein Mund verließ, merkte ich, wie die Last auf meiner Schulter kleiner wurde. Es war ein befreiendes Gefühl.

„Jetzt noch mal kurzgefasst. Du kannst also die Gefühle anderer Menschen sehen?", fragte sie nach. Unsicher nickte ich und spielte nervös mit dem Saum meines T-Shirts. Ich hatte keine Ahnung wie Ruby jetzt reagieren würde. Verschiedene Szenarien spielten sich in meinem Kopf ab. Entweder Ruby glaube mir kein Wort und hielt alles für einen schlechten Scherz oder sie glaubte mir doch, was ich jedoch stark bezweifelte.

Doch zu meiner Verwunderung reagierte sie anders als gedacht. „Das ist total cool! Meine beste Freundin hat eine magische Fähigkeit. Oh, vielleicht musst du ja auch in irgend so einer geheimen Loge beitreten wie Gwendolyn Shepherd", quiekte sie aufgeregt. Verdattert sah ich meine beste Freundin an. „Ich glaube nicht, dass das passieren wird", gab ich zu bedenken, worauf Ruby nur ein Schmollmund zog. „Hoffen darf man wohl noch", sagte sie leicht beleidigt.

„Aber jetzt zurück zum Ernst der Sache. Du kannst also die Gefühle anderer Menschen sehen, aber du kannst das nicht kontrollieren, richtig?" Zustimmend nickte ich. „Puh, da haben wir ganz schön viel Arbeit vor uns", sprach sie, woraufhin ich meine beste Freundin nur verwirrt ansah. Als sie mein Blick sah, grinste sie. „Na, ich werde dir natürlich helfen, das Geheimnis deiner Fähigkeit zu lüften. Damit lass ich dich doch nicht allein. Und eins kann ich dir versichern. Du bist nicht verrückt!" „Danke, dass du mir glaubst", äußerte ich mich und zog Ruby in eine feste Umarmung, die sie sofort erwiderte.

Als ich mich aus der Umarmung löste, sah ich sie fragend an. „Was machst du eigentlich hier? Versteh mich nicht falsch. Ich finde es schön, dass du hier bist, aber wolltest du nicht die Ferien in diesem Sommercamp verbringen?", fragte ich sie neugierig. Entgeistert sah sie mich an. „Hallo?! Ich gehe doch nicht in so ein blödes Sommercamp, wenn ich weiß, dass es hier zwei heiße Typen gibt, die meiner besten Freundin den Kopf verdrehen. Außerdem wollte ich mir selber ein Bild von den beiden machen, deine Beschreibungen waren nicht gerade die besten. An denen solltest du echt nochmal arbeiten. Und wer sagt schon Nein zu Sonne, Meer und heiße Typen." Lachend schüttelte ich den Kopf. „Du bist unmöglich. Aber wie hast du deine Eltern überredet?", erkundigte ich mich gespannt. Rubys Eltern waren ziemlich streng und ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie ihre Tochter einfach so haben gehen lassen vor allem, weil ihre Mutter unbedingt darauf bestand, dass Ruby in dieses Camp geht.

„Ehm...also vielleicht denken meine Eltern, ich wäre in dem Camp", stammelte sie und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Nicht dein Ernst?! Wenn deine Eltern das rausbekommen, bekommst du riesen Ärger. Außerdem merken die im Camp doch, dass du nie dort aufgetaucht bist." Ruby zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. „Und wenn schon. Inzwischen sollten meine Eltern wissen, dass ich meinen eigenen Kopf habe. Außerdem ist es mir das wert. Denn so habe ich mit meiner besten Freundin sechs Wochen lang den Spaß meines Lebens," grinste sie.

-

Nach dem Abendbrot saßen Ruby und ich zusammen im Bett und berichteten uns gegenseitig von Neuigkeiten.

Meine Tante hatte Ruby sogar angeboten, ein eigenes Zimmer zu bekommen. Doch Ruby lehnte dankend ab, denn sie würde mit in meinem Zimmer schlafen. Das Bett war schließlich groß genug für uns zwei und im Kleiderschrank hatte ich auch noch genug Platz.

Lächelnd beobachtete ich meine beste Freundin dabei, wie sie sich über ihre Eltern aufregte. Wild gestikulierte sie mit ihren Händen und steigerte sich immer mehr in ihre Erzählung rein.

In diesem Moment war alles perfekt. Denn in diesem Moment hatte ich all meine Sorgen nach hinten geschoben und genoss einfach nur die Zeit mit meiner besten Freundin.

Ein Moment der GefühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt