sechsundzwanzig

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Wir guckten Filme. Die ganze Nacht lang. Zu etwas anderem waren wir nicht imstande. Ich saß zwischen Tamara und Yuko und musste die ganze Zeit zu ihr sehen. Wie hübsch sie einfach war. Diese Perfektion, die von ihr ausging. Sie starrte stur nach vorne und richtete den Kopf weder nach links noch nach rechts.

Mein innerer Drang, meine Hände auf ihre Wangen legen und sie einfach zu küssen, war so groß, dass ich es beinahe nicht mehr aushielt. "Ich muss kurz aufs Klo", murmelte ich und rappelte mich auf, während ich aus dem Zimmer floh. 

Ich blieb beinahe zehn Minuten auf der Toilette, auf dem Boden sitzend und beinahe weinend. Warum nur hatte ich diese ganze Scheiße mit Toby abgezogen?

"Sandy? Alles gut?", fragte Tamara von draußen.

Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter. "Klar, alles gut", rief ich. "Bin gleich wieder da."

Ich war mir sicher, dass sie die Lüge in meiner Stimme erkannte, doch sie sagte nichts. Eine Zeitlang war Stille. Dann "Bis gleich dann" und leiser werdende Schritte. 

Kurz saß ich noch da, dann spülte ich mir einen Schwall kaltes Wasser ins Gesicht und ging wieder nach draußen.

Es machte mich fertig, Yuko so auf Abstand zu sehen. Und das Schlimmste war ja: Ich konnte sie verstehen. Ich konnte sie so sehr verstehen, dass es beinahe wehtat. Es war wie ein körperlicher Entzug und alles schmerzte so sehr. Ich hätte gedacht, nach einem kurzen Gespräch wie dem vorhin, müsste das Ganze besser werden, aber so war es nicht. Der Schmerz verstärkte sich nur noch, wenn ich daran dachte, dass das der intimste Moment des gesamten letzten Monats gewesen war. 

Als ich wieder den Raum betrat, war der Fernseher ausgeschalten. "Ist... ist irgendetwas?", fragte ich unter Darbietung meiner größten schauspielerischen Leistung. Außen wirkte ich wie immer, während ich mich innerlich fühlte, als müsse ich zerbersten.

"Wir müssen reden", sagte Tamara, die an Simon lehnte. "Dringend."

"Müssen wir nicht", widersprach Yuko aufgebracht. "Es gibt nichts zu bereden, klar? Das ist eine Privatsache zwischen uns beiden!"

"Ist es eben nicht", gab sie zurück, während ich mich aufs Bett fallen ließ. "Wir wissen alle, dass Sandy ziemliche Scheiße gebaut hat, aber es ist doch dumm, wenn dadurch jetzt die ganze Stimmung vergiftet ist."

"Ich dachte, mein Never have I ever würde wirken, aber-" "Dein Never have I ever?", fragte ich scharf. "Also hast du dir das alles ausgedacht?" "Hey, Simon, davon wusste ich auch nichts", beschwerte sich Tamara. "Ist doch jetzt egal", sagte er schnell, "aber irgendetwas muss da geschehen, sonst geht die ganze Sache hier noch so daneben."

"Es ist schon alles daneben gegangen, was daneben gehen kann", murmelte Yuko.

"Wir hatten eine Idee", sagte Sandy. "Also, Yuko, du schreist Sandy jetzt an und beschimpfst sie und wirfst ihr alles vor, was sie falsch gemacht hat. Von mir aus kannst du auch wo dagegenschlagen, aber bitte nicht gegen ihr Gesicht"

"Ähm... nein?", sagte Yuko. "Wieso sollte ich jetzt ein Drama draus machen?"

"Das Ganze ist sowieso schon ein Drama", sagte Simon, während er die Augen verdrehte. "Also, schrei sie jetzt an, dass sich die Balken biegen, oder wir setzen dich vor die Tür." "Das ist mein Haus", gab sie trotzig zurück. "Schrei jetzt einfach", sagte Tamara. "Wir sind zu dritt stärker als du."

Sie holte tief Luft und befeuchtete sich die Lippen. Ich hatte Angst. Solche Angst vor dem, was sie jetzt sagen würde, doch gleichzeitig hegte ich eine so tiefe Hoffnung, dass danach alles wieder wie vorher sein würde.

"Ich hasse dich, Sandy", begann Yuko. "Lauter", fuhr Simon dazwischen.

"Ich hasse dich", sagte sie jetzt lauter. "Und ich hasse es, dass ich dich immer noch liebe. Ich habe dich wirklich geliebt, Sandy, du warst nicht nur das erste Mädchen, sondern die erste Person überhaupt, für die ich etwas in diesem Ausmaß empfunden habe. Ich habe mich dir so weit geöffnet wie ich mich noch nie jemandem geöffnet habe - körperlich und geistig. Ich habe dir alles anvertraut, habe mich für dich ins Zeug gelegt, wollte dass du mich magst. Und du hast es mir damit gedankt, dass du dich von dem erstbesten Typen hast ficken lassen, der dir über den Weg gelaufen ist. Es tut weh, Sandy, es tut scheiße weh, ich will nichts mehr für dich fühlen und ich glaube nicht, dass ich dir jemals verzeihen kann, weil ich nie wieder etwas Freundschaftliches für dich empfinden könnte!"

"Gut.", sagte Tamara nur. "Gut. Jetzt du, Sandy"

Ich schluckte. Aber ich wollte es tun. Ich wollte, dass alle hörten, warum ich so gehandelt hatte und ich wollte, dass sie meine Gefühle verstanden.

"Ich..." Meine Stimme klang viel zu hoch, als ich zu Sprechen ansetzte. "Ich... ich habe dich auch geliebt, Yuko, tue es immer noch. Und ich weiß, dass das für dich keinen Unterschied ausmacht, aber hör endlich auf zu sagen, dass ich mich ficken lassen habe! Zwischen rummachen und miteinander schlafen besteht ein Unterschied und, scheiße, ich habe das nur getan, weil ich mir so unsicher war. Ich wusste, dass ich dich liebe, aber ich hatte noch nie zuvor etwas so stark empfunden und es war noch ein Level komplizierter, dass du ein Mädchen bist, weil ich jemand bin, dem es total wichtig ist, was andere von ihr denken! Aber, Yuko, alles, was ich mit Toby gemacht habe und alles was ich danach getan habe, hat sich falsch angefühlt, weil du nicht dabei warst! Ich meine das ernst! Ich... ich vermisse dich, Yuko."

Bei den letzten Worten war ich leiser geworden, bis es beinahe ein Flüstern war. 

"Besser jetzt?", fragte Tamara.

"Nein", sagte Yuko im selben Moment, in dem ich "Ja" sagte.

"Yuko, jetzt reiß dich doch zusammen", sagte Simon verzweifelt. "Ich kann mir euch beide nicht ansehen. Ihr versucht so verzweifelt, euch zu hassen, dass es schon wieder traurig ist."

"Simon, du hast doch keine Ahnung, von was du redest", zischte Yuko. "Sie hat mich betrogen. Sandy, ich verstehe deine Gründe, aber sie waren falsch. Ich habe tagelang nur geheult."

Okay, spätestens jetzt fühlte ich mich schuldig und wäre sie irgendjemand anders, hätte ich sie umarmt. Aber sie war nun mal Yuko, also umarmte ich sie nicht.

"Es tut mir wirklich leid", flüsterte ich. "Aber, Yuko, ich wollte nur sagen, dass ich mich vor meinen Eltern geoutet habe. Ich... ich weiß zwar noch immer nicht, was das jetzt genau ist mit meiner... Sexualität und so, aber... ich weiß jetzt, was ich für dich empfinde. Und das ist unverändert."

"Du bedeutest mir noch immer etwas", sagte Yuko hart. "Aber das bedeutet nicht, dass ich bereit bin, dir zu vergeben! Gib mir Zeit, ja, bis ich mich entscheiden muss, ob ich dich jetzt hasse oder liebe."

"Besser", sagte Simon. "Wollen wir nochmal Never have I ever spielen?"

"Nein!", sagten Tamara, Yuko und ich im Chor. Und das erste Mal an diesem Abend musste ich lachen.

a million feelings - and you inbetween (gxg)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt