siebenundzwanzig

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Ein grüner Tannenbaum. Lichter. Lachende Gesichter. Geschenke. Kerzen. Lebkuchen. Weihnachtslieder. Meine Eltern. Lisa. Flashbacks an Jahre frühester Kindheit.

Weihnachten warin meiner Familie jedes Jahr gleich, und irgendwie wardas genau das, was ich so daran mochte. Es war schön, aber berechenbar. 

Am 23. Dezember machten Lisa und ich immer einen Mädelsabend. Ich durfte bei ihr übernachten und wir taten all das, was Mum und Dad für schlecht hielten. Wir unterhielten uns, guckten Filme, aßen Pizza, lackierten unsere Nägel, schminkten uns und lachten Tränen, bis uns die Wimperntusche in die Augen rann und schliefen dann Arm in Arm ein. Am Weihnachtsmorgen wachten wir bald auf. Auch das war - egal, wie spät wir am Tag zuvor geschlafen hatten und egal, wie sehr wir uns bemühten, die Augen wieder zu zu kriegen - eine Tradition, die immer beibehalten wurde. Danach suchten wir das ganze Haus nach Weihnachtsgeschenken ab - früher hatte die das Christkind so gut versteckt, heute waren es unsere Eltern - aber egal, wer es war, finden taten wir sie nie. Nach einem gemütlichen Frühstück lagen wir den ganzen Tag faul herum, zappten durch verschiedene Kanäle, spielten Brettspiele. Gegen sieben Uhr wurden wir in unsere Zimmer hinaufgescheucht, dann gab es Bescherung und Kekse und Lieder und Umarmungen und die kein-Handy-am-Weihnachtsbaum-Regel, während sich den Rest des Weihnachtsabends jeder mit seinen Geschenken und dem Essen - Käsefondue - beschäftigte. 

Alles lief genauso ab wie sonst auch - und dennoch war es heuer anders. Etwas fehlte. Jemand fehlte. Yuko. Ich hatte nicht gewusst, wie sehr ich sie vermisst hatte, bevor ich sie traf, aber es fehlte mir, keine "Merry Christmas"-Nachricht von ihr zu bekommen, es fehlte mir, dieses Glücksgefühl bei dem Gedanken an sie im Bauch zu haben. Vor allem aber spürte ich die Blick meiner Eltern auf mir. Auch, wenn ich es nicht sah, merkte ich, wie sie sich Blicke zuwarfen, wie sie es auch die ganzen restlichen Wochen seit meinem Outing getan hatten und es tat mir wirklich weh, dass sie mich nicht einfach akzeptieren konnten, wie ich war.

Als ich unter den Christbaum kroch, um mir ein Geschenk hervor zu fischen, in Gedanken ganz woanders, versengte ich mir die Haut an einer Kerze, und der süße Schmerz tat beinahe gut, weil er mich vergessen ließ, warum ich mich schlecht fühlte. Ich war kurz davor, es noch einmal absichtlich zu tun, als ich hochschrak und mich deswegen am liebsten selbst gescholten hätte. Wieso hatte ich solche Gedanken? Wieso kamen sie so ungebeten? Und wieso konnte ich nicht ein einziges Mal normal sein?

Meine Geschenke waren wirklich gut, es war auch vieles dabei, was ich mir gewünscht hatte, doch etwas fehlte. Ich wusste selbst nicht, was, vielleicht irgendetwas Persönliches. Von Tamara und Simon hatte ich ein Fotoalbum bekommen, selbst geklebt und von Lisa ein Buch mit Zitaten und Gedichten und Liedstellen, dazu ein Schaumbad. Was das betraf, hatte ich es also gut getroffen, aber dennoch entging mir nicht, dass die Geschenke meiner Eltern rein materieller Art waren. Bücher. Gutscheine. Kleidung. Aber keine einzige "Frohe Weihnachten"-Karte, nichts, was etwas mit mir persönlich zu tun hatte. Vermutlich hatte ich einfach zu hohe Erwartungen.

Knappe zwei Stunden später lag ich vollgefressen auf der Couch, blätterte durch mein neues Buch und dachte an Yuko. Ich dachte immer an sie, doch das wollte ich gar nicht. Natürlich wollte ich sie nicht vergessen und ich hatte immer noch Hoffnungen, das, was ich angerichtet hatte, wieder ausbügeln zu können, aber ich wollte Kontrolle über meine Gedanken behalten. Selbst entscheiden, wann ich an sie denken wollte, an sie, ihre magischen Hände, ihre unglaubliche Zunge, ihre schönen Worte, und wann ich diese Gedanken einfach beiseite schieben wollte. Doch das ging nicht. Die Gedanken an sie kamen immer wieder. 

Ich dachte daran, wie sie mich dort oben im Baumhaus in den Armen gehalten hatte, mit mir gesprochen, wie wir Snapchat-Filter ausprobiert hatten, uns geküsst. Und wenn ich mich daran erinnerte, wie gut sich ihre Lippen an meinen, an meinen Brüsten, zwischen meinen Beinen, angefühlt hatten, zog sich in mir alles zusammen. Ich wollte sie so sehr, dass es beinahe wehtat, aber ich wollte mich nicht dermaßen von ihr abhängig machen lassen. 

"Was ist los?", fragte Lisa, die sich unbemerkt neben mich gesetzt hatte. "Nichts, nichts", murmelte ich und schlug das Buch auf einer beliebigen Seite auf. "Ich bin deine Schwester. Du kannst mich nicht anlügen." "Tue ich auch nicht", log ich, während ich so tat, als wäre die Seite, die ich gerade studierte, äußerst interessant. "Denkst du an Yuko?", fragte sie leise. Ich schluckte. "Lisa... können wir bitte kurz nicht über sie sprechen?", fragte ich, während ich den Kloß in meinem Hals hinunterschluckte. 

"Wie du magst. Dann check wenigstens Whats-App", sagte sie und legte einen Arm um mich. "Warst du nicht diejenige, die sich für diese Kein-Handy-am-Weihnachtsbaum-Regel eingesetzt hat?", fragte ich argwöhnisch und musterte sie. 

"Mag sein", sagte sie. "Aber jetzt ist eine Ausnahme." Sie drückte mir mein Handy in die Hand, das sie normalerweise in einer extra dafür vorgesehenen Tasche aufbewahrte. 

"Lisa - muss ich Angst haben?", fragte ich, halb spaßhalber, halb ernst, doch sie verzog keine Miene. 

Mein Herz klopfte, während ich meine PIN eingab und WhatsApp öffnete.

Als ich die Nachricht sah, blickte ich Lisa erstaunt an. "Lisa - woher wusstest du-?" "Sie hat mir über Insta geschrieben", sagte sie, während sie aufstand. "Ciao, Sandy, ich geh dann mal wieder zu Mum und Dad."

Sie machte sich aus dem Staub und mit zittrigen Fingern öffnete ich die Nachricht.

Sandy. Ich bin noch nicht bereit, so zu tun, als wäre nichts geschehen, aber du bist mir zu wichtig, um immer wieder zu betonen, dass etwas geschehen ist. Es wird nicht wieder so sein wie vorher, zumindest nicht am Anfang, aber wir könnten es noch einmal versuchen. Sieh es als Weihnachtsgeschenk. - Y 

Sprachlos las ich mir die Nachricht noch ein zweites und ein drittes Mal durch. Das war mehr, als ich mir jemals erträumt hatte. Entgeistert blickte ich auf mein Display, dann zogen sich meine Mundwinkel wie von selbst hoch.

Eine einzige WhatsApp hatte soeben mein Weihnachten gerettet.

a million feelings - and you inbetween (gxg)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt