Prolog

114 6 1
                                    

Verschwinden. Unsichtbar sein. Das ist es, was ich mir im Moment mehr als alles andere wünsche. Keine Freunde, keine Mitschüler, keine Geschwister, keine Eltern, keine Lehrer, keine Nachbarn und wer sich sonst noch über meine Ausschreitungen eine Meinung bilden möchte. Einfach nur Stille.
". . .es gibt auch Pferde. Ich war vor ein paar Jahren dort und es war herrlich. Nur Natur, Hügel, Felder und Sonne. Es wird dir gefallen. Ganz bestimmt", erzählt Jonathan, mein Stiefvater, während er sich ein paar grüne Bohnen in den Mund schiebt und noch mit Essen im Mund spricht. Eklig. Aber es sei ihm verziehen. Er gibt sich alle Mühe, ein guter Vater für mich zu sein. Schlechte Witze. Das Bauen des Baumhauses im Garten. Er holt mich und meine Geschwister von der Schule ab. Kocht jeden Tag gemeinsam mit meiner Mom für uns. Wie gerne ich ihm an den Kopf werfen würde, dass er nicht mein Dad ist und sich nicht in meine Angelegenheiten einmischen soll. Aber ich kann es nicht, denn er ist ein guter Vater und hat jedes Recht, sich in mein Leben einzumischen. Ich hasse ihn dafür.
Mom und Jonathan haben sich vor zehn Jahren bei Trader Joe's kennengelernt. Er ist mit seinem Einkaufswagen in ihren gefahren und es war Liebe auf den ersten Blick. Seine Frau ist drei Jahre zuvor verstorben und er hat sich gut um seine zwei Töchter gekümmert. Er konnte also nur ein guter Vater für mich werden.
Mom hatte sich ein Jahr vor ihrem Zusammenstoß im Supermarkt von meinem Dad scheiden lassen. Er ist auch ein guter Vater, aber seit er selbst seine neue Frau kennengelernt und drei weitere Kinder, meine Halbgeschwister, alles Jungs, bekommen hat, sehe ich ihn nur noch alle paar Wochen am Wochenende und den Feiertagen.
Wir sind eine Patchwork Familie. Ich vertrage mich mit meinen Geschwistern, sie sich auch mit mir und alle kommen super mit den neuen Partnern ihrer Eltern aus. Trotzdem bin ich irgendwie auf die schiefe Bahn geraten. Von der Musterschülerin, die nur sehr gute Noten nach Hause bringt, als Nebenjob die Hunde der Nachbarn ausführt und gelegentlich auch den Babysitter für Bekannte spielt, zu dem Mädchen, dass ihren Abschluss nicht schafft und mit einem zehn Jahre älteren Mann schläft. Ich war das Vorzeigekind an Weihnachten und Geburtstagen.
"Oh, Nura war die beste in ihrem Sozialwissenschaftskurs."
"Nura, wird wahrscheinlich auf ein Elitecollege gehen."
"Nein, Nura geht nicht auf Partys. Sie sitzt immer an ihrem Schreibtisch und lernt."
"Nura war schon wieder Jahrgangsbeste."
"Nura ist Kapitänin der Volleyballmannschaft geworden. Ja, sie haben den ersten Platz gemacht."
Ich könnte kotzen. Man würde annehmen, ich wäre ein Roboter, der gute Leistungen erbringt, solange man ihm Essen bereitstellt und für ein Dach über dem Kopf sorgt. Keine Persönlichkeit. Einfach nur eine kalte Blechkiste, die keine Interessen hat.
Hat sich niemand gewundert, dass es einmal so kommen musste? Im Nachhinein bin ich nämlich nicht überrascht.
"Wann geht der Flug morgen, Jon?", möchte meine Mutter wissen, während sie den Tisch abräumt. Dass ich erst die Hälfte meines Tellers aufgegessen habe, scheint sie nicht zu interessieren. Vermutlich gehen alle davon aus, dass ich mich aufgrund der vergangenen Ereignisse schäme und in eine Art depressiven Zustand gefallen bin und deshalb weniger esse. Die Wahrheit ist jedoch, dass es mir gut geht. Ich schäme mich nicht. Ich bereue nichts, denn ich habe mich frei gefühlt. Alles war plötzlich so leicht und ich wollte mich bloß wie ein normaler Teenager fühlen. Meine Jungfräulichkeit mit siebzehn an einen Mann zu verlieren, der nur hier war, weil er seine Eltern besucht hat, war vielleicht nicht die beste Entscheidung gewesen.
Aber nein, es war eine gute Entscheidung. Ich werde dieses Ereignis nicht klein reden, nur weil ein paar Außenstehende meinen es wäre unangebracht. Es war schön und das ist schon mehr als andere über ihr erstes Mal sagen können. Er war sanft und rücksichtsvoll, hat darauf geachtet, dass ich mich wohl fühle und mir kommuniziert, was ihm selbst gefällt.
Allerdings sehen meine Eltern das nicht so und sind der Meinung, dass meine frühesten Entscheidungen abnormal waren und ich deshalb etwas Abstand brauche, bevor ich wieder am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann. Man könnte doch glatt glauben, dass ich mich in einer Episode von Bridgerton befinde.
"Neun Uhr. Wir fahren halb acht los und sollten dann gegen acht am Flughafen sein", erklärt Jonathan und hilft meiner Mutter beim Abräumen.
"Fahrt besser um sieben los, damit Nura den Flug nicht verpasst", ruft Mom aus der Küche.
"Machen wir", ruft er zurück, doch zwinkert mir mit einem kurzen Lächeln zu.
Weil meine Eltern der Meinung sind, dass ich Abstand brauche, schicken sie mich zu Jonathans Cousine Lilly nach Kentucky. Ich habe sie vor zwei Jahren auf der Hochzeit meiner Mutter und Jon kennengelernt. Eine nette Frau. Sie hat eine kleine Farm und was das Wichtigste ist, es ist weit weg von Tacoma. Niemand wird mich kennen oder die Geschichten, die man sich über mich erzählt.
Es freut mich, dass ich ab morgen mehrere Meilen von hier entfernt sein werde. Dennoch hätte ich mir gewünscht, dass mich meine Eltern nicht einfach abschieben würden. Dass sie zu mir stehen und sagen, dass wir gemeinsam eine Lösung finden. Vielleicht hätte ich mir aber auch gewünscht, dass sie mit mir gesprochen hätten und mich gefragt hätten, warum ich so gehandelt habe. Dass ich mich eigentlich, wie ein ganz normaler Teenager verhalten habe und an mir nichts verkehrt ist. Ich hätte ihnen das auch alles sagen können, habe ich aber nicht aus Trotz und Wut oder wie auch immer ich mich gerade fühle, das hängt aktuell ganz stark von der Tageszeit ab und jetzt fahre ich am Morgen auf eine Farm in Kentucky.
Tara und Liza, Jonathans leibliche Töchtern, die vor zwei Tagen ins Sommer Camp gefahren sind, war es egal, was über mich erzählt wird und was ich getan habe. Sie haben mich in den Arm genommen und mir gesagt, dass ich immer ihre große Schwester sein werde, egal wie viel Scheiße ich baue. Lizas Worte, nicht meine. Es war ein kleiner Trost. Aber vermutlich das Beste, was ich in den vergangenen Wochen gehört habe und das von einer Dreizehnjährigen. Tara, die zwei Jahre jünger ist als ihre Schwester, hat sich ähnlich ausgedrückt.
Vielleicht schicken sie mich deshalb weg, damit ich keinen schlechten Einfluss auf meine jüngeren Geschwister habe. Ich werde es wohl nie erfahren, denn wenn ich sie nach dem Grund fragen würde, müssten sie mit mir darüber reden und das würde nur wieder in einen riesigen Streit ausarten, in dem Tränen fließen, Türen knallen und Worte gesprochen werden, die nicht mehr zurückgenommen werden können.

Author's Note:
Ich werde nach und nach Kapitel zu dieser Geschichte veröffentlichen. Zu den genauen Veröffentlichungsdaten kann ich nichts sagen, weil mein Zeitplan das nicht zulässt. Allerdings habe ich einige Kapitel seit 2 Jahren auf meinem Computer und hoffe, dass die Veröffentlichung mich dazu motiviert die Geschichte zu beenden. Außerdem gehören unregelmäßige Kapitel Veröffentlichungen nicht irgendwie zu Wattpad? 

Viel Spaß beim Lesen❤️

Viel Spaß beim Lesen❤️

Hoppla! Dieses Bild entspricht nicht unseren inhaltlichen Richtlinien. Um mit dem Veröffentlichen fortfahren zu können, entferne es bitte oder lade ein anderes Bild hoch.


Silent CountryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt