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Gerade einmal drei Tage bin ich bei Lilly, habe noch acht Wochen vor mir und denke schon daran, dass ich wieder hier her zurück möchte. Ich werde mir fest vornehmen zurückzukehren.
In den drei Tage ist nicht viel passiert und genau das ist das Schöne daran. Fürs Erste habe ich geplant nichts zu tun. Denn das habe ich noch nie getan. Einfach dasitzen, in die Ferne schauen, den Vögeln und Grillen lauschen und nichts tun. Ich werde nicht ewig nichts tun. Vielleicht ein paar Tage noch und dann werde ich Lilly meine Hilfe anbieten. Wir haben bisher jeden Abend vor dem Fernseher verbracht und Filme zusammen geschaut. Gestern habe ich ihr von meinem Plan berichtet.

Eventuell könnte ich ihr im Laden oder bei der Ernte helfen, alle zwei Wochen am Dienstag auf den Markt fahren, den Jungs das Mittagessen bringen, kochen, mit Freddie und den Hunden spielen. Irgendetwas wird sich sicherlich finden.
Sam habe ich in den drei Tagen nicht zu Gesicht bekommen. Da mich Lilly aber vorgewarnt hat, wundert es mich nicht. In den kommenden Wochen werde ich ihn schon kennenlernen.
"Das Gefällt dir, nicht wahr?", frage ich das braune Pferd vor mir.
Es steht in seiner Box und ist nicht mit den anderen draußen auf der Koppel. Der blaue Verband an seinem vorderen linken Bein lässt stark vermuten, dass es verletzt ist.
Ich habe vor ein paar Minuten beschlossen mein Nichtstun in den Pferdestall zu verlegen, bin durch die Boxen gewandert und habe das schöne braune Pferd mit der schwarzen Mähne und dem weißen Fleck auf der Stirn entdeckt. Langsam habe ich mich genähert, denn ich bin noch nie einem Pferd in Person gegenübergetreten und habe langsam meine Hand gehoben, damit es daran riechen konnte. Als es mich sanft angestupst hat, habe ich es als Einladung empfunden, es streicheln zu können und habe seitdem auch nicht mehr damit aufgehört. Irgendwie ist es entspannend, fast schon therapeutisch. Das warme Gefühl unter meinen Handflächen, der Geruch, das Schnauben.

"Wie heißt du denn? Dein Name steht hier bestimmt irgendwo." Ich möchte nicht immer von Es oder Dem Pferd sprechen und begebe mich daher auf die Suche.
"Cash", flüstere ich, als ich den Namen auf einem Balken neben der Box entdecke. Es sieht aus, als hätte jemand die Buchstaben mit einem Messer in das Holz geritzt.
Ich setze meine Streicheleinheiten fort und blicke in Cashs große dunkle Augen. Die Wimpern zucken ein paar Mal, bevor er seinen Kopf über meine Schulter legt und mich näher an sich ran zieht. Meine Hände wandern seinen Hals entlang und streicheln ihn auch dort weiter.
"Ich mag dich auch", rede ich weiter mit Cash. Das Gefühl der Einsamkeit, das mich die letzten Wochen umgeben hat, äußert sich nun darin, dass ich mit einem Pferd rede. Immerhin ist es besser als sich mit meinen Eltern zu streiten. "Du verurteilst mich nicht. Zerreißt dir nicht das Maul über meine Entscheidungen und lässt mich mein Leben leben. Ich glaube dafür bringe ich dir nachher einen Apfel."
Cash schnauft, als hätte er mich verstanden und ich muss leise lachen.

Ich trete wieder zurück und streichle noch einmal über seine Stirn und den weißen Fleck.
"Du bist ein Hübscher."
Er schnaubt wieder, wendet seinen Blick jedoch ab und bewegt seinen Kopf nach links. Ich folge seinem Blick und erkennen einen jungen Mann im Gang zwischen den Boxen stehen. Ich habe gar nicht gehört, dass jemand den Stall betreten hat. Wie lange steht er dort schon? Seine Augenbrauen sind zusammengekniffenen und der Blick starr auf mich gerichtet. Vielleicht hat er gehört, wie ich mit Cash rede und hält mich für verrückt.
Er ist keiner von den Cowboys und auch niemand von den Erntehelfern. Lilly hat ihn mir neulich bei meiner Ankunft nicht vorgestellt.
Es bleibt also nur eine Person übrig. Ich habe ihn schon einmal gesehen. Eine jüngere Version von ihm zumindest. Auf Lillys Fotos im Haus. Das ist ihr Sohn, Sam.
"Hi, ich bin Nura", stelle ich mich vor.
"Du bist Sam, Lillys Sohn, richtig?", rede ich weiter, damit er weiß, dass ich ihn erkenne. Er starrt immer noch, was mich irgendwie nervös macht, aber ich versuche es zu ignorieren. Sein Blick gleitet kurz zu Cash, fixiert dann aber schnell wieder mich.
"Ist das dein Pferd?", frage ich, obwohl ich weiß, dass ich keine Antwort erhalten werde. "Er hat auf dich reagiert", führe ich meine Überlegungen weiter aus, damit er weiß, wie ich auf die Idee gekommen bin.
"Er ist schön." Ich wende mich wieder Cash zu und beginne oberhalb seiner Nüstern zu streicheln.
Plötzlich sehe ich einen Schatten und Sam steht neben mir. Seine Hand an Cash, der sich über die Berührung freut. Meine Hand hingegen lasse ich sofort fallen und versuche mir die Überraschung nicht zu sehr auf meinem Gesicht anmerken zu lassen. Scheiße, warum bewegt er sich, ohne einen Ton zu machen? Er redet vielleicht nicht, aber das bedeutet nicht, dass er gar keine Geräusche produzieren muss.
"Ich bin Nura", beginne ich erneut, weil er mich immer noch anstarrt. "Jonathan ist mein Stiefvater. Der Cousin deiner Mutter."
Keine Reaktion.
Seine braunen Augen liegen weiterhin auf mir, doch starrt er nun nicht mehr. Sein Blick liegt auf meinem Gesicht, wandert kurz über meinen Körper und dann wieder über mein Gesicht. Trotz meiner Jeans und dem gelben T-Shirt fühle ich mich unter seinem Blick seltsam entblößt. Ist das seine Art der Kommunikation? Seine Blicke sprechen, doch ich kann sie nicht identifizieren. Was will er mir sagen?
Vielleicht muss ich es auch ausprobieren.
Ich lasse meinen Blick schweifen. Über seine zerschlissene Jeans, das schwarze T-Shirt mit Loch am Kragen, die muskulösen gebräunten Arme, die blonden Bartstoppeln an seinem Kinn, die leicht nach links gebogene, aber schöne Nase, weiter über seine braunen Haare und wieder zurück zu seinen ebenfalls braunen Augen. Die Augenbrauen hat er immer noch leicht zusammengezogen.
Was willst du mir sagen, Sam?
Als hätte er die Frage gehört, entfernt er sich von Cash und ich trete vor Schreck einen Schritt zurück, stoße dabei jedoch mit meiner Rückseite an die Tür der Pferdebox.
Ich habe keine Angst, obwohl Sam ziemlich bedrohlich wirkt, aber als Angst würde ich es nicht beschreiben, was ich im Augenblick empfinde. Neugierde? Verwunderung? Interesse?
Ich weiß es nicht.
Sam steht vor mir. Seine Brust berührt fast meine. Bloß ein paar Zentimeter trennen uns und obwohl ich nicht klein bin, muss ich meinen Kopf in den Nacken legen, um ihm in die Augen zu schauen.
Als er jedoch nach meiner Haarsträhne greift und sie zwischen seinen Daumen und Zeigefinger hält, schrecke ich vor der plötzlichen Aktion zurück und stoße mir dabei erneut die Fersen an der Holztür.
War das ein Schmunzeln? Ich bin mir nicht sicher, aber glaube gesehen zu haben, wie seine Mundwinkel kurz gezuckt haben. Doch seine Augenbrauen sind noch immer nachdenklich zusammengezogen. Vielleicht war es nur Einbildung.
Starr beobachte ich ihn und warte ab, was er als nächstes tun wird. Ich sollte ihm die Hand wegschlagen, ihn von mir stoßen und ihm sagen, dass er nicht so nah an Personen herantreten kann, die er nicht kennt. Aber ich tue nichts von alle dem. Ich starre und fühle mich gelähmt, bin gleichzeitig, aber auch neugierig, was sein nächster Schritt sein wird. Alles, während er meine braunen Haare zwischen seinen Fingern hält und sie betrachtet. Hoffentlich habe ich kein Spliss.
Er lässt sie fallen und ich atme erleichtert aus, weil ich denke, dass er sich wieder von mir entfernen wird, doch das Gegenteil ist der Fall. Sam bewegt sich noch näher auf mich zu, dass nun meine Brust seine berührt und ich überrascht einatme. Dabei steigt mir sein Geruch in die Nase, eine Mischung aus Gräsern, die durch die Sonne erwärmt wurden, feuchtem Holz und etwas Blumiges, das ich als Waschmittel identifizieren kann.
Sein Kopf bewegt sich zu meinem Nacken und ich spüre, wie seine Nase über meinen Hals streift.
Ich halte die Luft an. Meine Augen vor Schock geweitet.

Silent CountryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt