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Die Sonne scheint mir ins Gesicht, was bedeutet, dass ich aufstehen muss. Ich lasse die Vorhänge gerne auf, weil die Sonne genau dann in mein Zimmer scheint, wenn es Zeit ist das gemütliche Bett zu verlassen.
Nachdem ich mich im Badezimmer frisch gemacht und die Zähne geputzt habe, begebe ich mich nach unten. Den Geruch von Kaffee kann ich bereits auf der obersten Stufe vernehmen und das Klappern von Geschirr, verrät mir auch, dass Lilly das Frühstück zubereitet.
Ich möchte wirklich nicht ihre Routine durcheinanderbringen und ich glaube ihr auch, dass sie gerne Dinge organisiert und sie selbst in die Hand nimmt, aber nachdem ich bereits das Vorbereiten der Sandwiches übernommen habe, konnte ich Lilly auch dazu überreden, gelegentlich das Abendessen zu kochen. Es ist für mich keine Arbeit und dafür, dass sie mich so herzlich bei sich aufgenommen hat, kann ich ihr gerne die ein oder andere Aufgabe abnehmen. Lillys Tatendrang ist inspirierend und ihre gute Laune am Morgen versorgt einen den ganzen Tag mit Energie.
Der Gedanke bringt mich zum Grinsen, doch meine Mundwinkel senken sich schnell wieder, als ich sehe, wer an dem runden Esstisch neben der Kücheninsel sitzt.
Sam.
Lilly kann mich noch nicht sehen, da mich die Wand des halboffenen Treppenaufganges verdeckt, doch mein Eintreten wird sehr wohl von Sam bemerkt.
Er starrt mich an. Schon wieder.
Ich starre zurück. Schon wieder.
Sein Gesicht verrät mir nicht, was in seinem Kopf vorgeht, doch da ich mich nicht bewege, hebt er fragend eine Augenbraue und lässt seinen Blick wandern.

Ich trage noch meinen Schlafanzug. Eine lange hellblaue Hose aus dünnem Baumwollstoff und ein graues Top. Ohne BH. Normalerweise waren es nur Lilly und ich am Morgen, also habe ich mir nie die Mühe gemacht, mich extra umzuziehen, doch da nun Sam anwesend ist, werde ich das ändern müssen. Aber jetzt noch einmal hoch gehen, um mir einen BH anzuziehen wäre sinnlos. Er hat mich bereits gesehen.
Ich schüttle Sams Blicke ab und gehe weiter in den Raum hinein, damit mich nun auch Lilly sehen kann.
"Guten Morgen", begrüßt sie mich freudestrahlend als sie mich entdeckt.
"Morgen." Ich versuche zumindest ein winziges Lächeln zu Stande zu bringen.
Sam hat aufgehört zu starren und konzentriert sich ganz auf seinen Speck.
"Wie du dir vielleicht denken kannst, ist das mein Sohn Samuel", sagt Lilly und deutet mit dem Pfannenwender auf Sam.
"Ja, wir haben uns gestern schon kurz kennengelernt."
"Oh, wirklich?" Ihre Augenbrauen sind vor Überraschung nach oben gezogen. Bestimmt, weil ich ihr gegenüber beim Abendessen nichts erwähnt hatte, doch ich weiß bis jetzt nicht, ob ich unser Aufeinandertreffen ansprechen soll.
Sam scheint nun auch wieder interessiert zu sein und schaut mich abwartend an.
Er wird wissen, dass ich seiner Mutter nichts gesagt habe, denn sonst hätte sie bestimmt mit ihm gesprochen und wäre jetzt auch nicht so gut gelaunt.
"Ja, Cash hat uns quasi vorgestellt", erkläre ich und Sam senkt seinen Blick wieder.
"Das ist schön. Setz dich ruhig ich bringe dir alles." Lilly hantiert weiter mit dem Pfannenwender und ich setze mich wie verlangt auf den Stuhl gegenüber von Sam, der unbeeindruckt auf seinem Speck herum kaut und anschließend einen Bissen von seinem mit Butter bestrichenen Toast nimmt.
"Ich habe uns French Toast gemacht", teilt Lilly mit und stellt mir einen Teller vor die Nase. Offensichtlich hat sie heute sehr gute Laune, wenn sie sogar French Toast macht. Vielleicht liegt es daran, dass ihr Sohn mit uns isst.
Ich bedanke mich und lasse mich weiterhin mit Sirup, Früchten und Kräutertee bedienen, was mir zugegeben sehr unangenehm ist. Zu Hause haben wir nur zum Abendessen gemeinsam gesessen und da hat jeder mitgeholfen. Unsere Tagesabläufe waren einfach zu verschieden. Aber hier bei Lilly, nehme ich jede Mahlzeit mit einer anderen Person zu mir und werde oft auch noch bekocht. Das ist neu und etwas an das ich mich nur schwer gewöhnen kann.
Als auch Lilly am Tisch sitzt, beginne ich zu essen und höre ihr zu, wie sie Aufgaben an ihren Sohn delegiert.
"Der Zaun auf der Koppel an der Südseite hat ein paar lose Bretter, die müssten als nächstes repariert werden. Im Gewächshaus hat die Glasscheibe neben der Tür einen Sprung, aber das kann auch noch bis zum Ende des Sommers warten. . ."
Lillys Worte rücken in den Hintergrund und ich nutze die Gelegenheit Sam genauer zu beobachten. Er antwortet nicht, schüttelt auch nicht seinen Kopf oder zeigt irgendeine andere Reaktion, dass er mit den Aufgaben einverstanden ist, die er zu erledigen hat. Er beißt lediglich von seinem Toast ab und hält den Blick auf seinen Teller gesenkt.
Wie gestern trägt er ein schwarzes T-Shirt, diesmal ohne Loch und eine Jeans. Sein Kiefer bewegt sich in mahlenden Bewegungen und jedes Mal, wenn er von seinem Toast abbeißt, zuckt ein Muskel an seiner Schläfe. Ein paar kleine Sommersprossen sind auf seiner Nase zu erkennen, doch nichts im Vergleich zu seiner Mutter. Dennoch ist deutlich zu erkennen, dass er Lillys Sohn ist. Die Augenpartie, die Form seines Mundes, die schlanke Nase, alles an ihm weist klare verwandtschaftliche Verhältnisse zu Lilly auf. Ob er auch Ähnlichkeiten mit seinem Vater hat, kann ich nicht beurteilen. Denn entweder habe ich ihn auf den Fotos im Haus nicht erkannt oder es gibt lediglich keine von ihm. Lilly spricht allgemein nicht über ihn. Ich weiß nur, dass er vor einer ganzen Weile verstorben ist.
Sam muss mein Starren bemerkt haben, denn er hebt plötzlich den Kopf und seine braunen Augen schauen mich an, als könnten sie mir in die Seele schauen. Ein leichter Schauer rollt meinen Rücken herab. Scheiße, dieser Junge hat Superkräfte oder sowas.
Da er mein Starren mitbekommen hat, senke ich meinen Blick auch nicht, obwohl alles in meinem Körper mir dazu rät, mich auf mein Essen zu konzentrieren, doch ich bin gefangen.

Silent CountryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt