Manche Dinge verstehe ich nicht. Sam ist liebevoll zu mir, kümmert sich um mich und sorgt dafür, dass ich all diese Gefühle empfinde, und im nächsten Moment ignoriert er mich wieder. Ich habe ihn seit dem Wochenende jeden Tag gesehen, zum Frühstück und zum Abendessen. Manchmal auch zwischendurch, wenn er Stroh von der Scheune in den Stall gebracht, Kisten von der Ernte geschleppt oder einfach so, wenn er auf der Veranda saß und Freddie beim Spielen mit Poseidon und Oscar zugesehen hat.
Ich versuche sein Schweigen nicht allzu persönlich zu nehmen. Das scheint eben einfach seine Art zu sein. Er interagiert mit Menschen und zieht sich dann wieder zurück.
Etwas scheint jedoch anders an seinem Verhalten zu sein. Lilly hat mich nämlich darauf angesprochen. Sie hat mich gefragt, ob etwas vorgefallen sei, doch ich habe nur mit den Schultern gezuckt und ihr gesagt, dass alles wie immer ist. Denn das ist es auch, oder?
Ich kenne Sam nicht anders, seit ich hier bin.
Nachdem ich wieder arbeitsfähig war, habe ich von Montag bis Mittwoch gemeinsam mit Val im Laden gearbeitet und habe die letzten beiden Tage bei der Ernte geholfen. Die Kirschen und auch ersten Pfirsiche mussten gepflückt, gewogen und verpackt werden, damit sie im Laden und den umliegenden Lokalen ausgeliefert und verkauft werden können. Den vierten Juli haben wir auch gefeiert, doch die Arbeit auf der Farm musste trotzdem erledigt werden und so haben wir, nachdem alle Aufgaben erledigt waren, ein großes Essen veranstaltet und abends dem Feuerwerk der Stadt aus der Ferne zugesehen, da wir wegen den Tieren kein eigenes veranstaltet haben.
Heute steht auch wieder eine Party an. Dieses Mal allerdings nicht am Fluss, sondern in einem alten verlassenen Haus im Wald und da die Farm auf dem Weg liegt, hat mich Val abgeholt, damit ich mich nicht verfahren kann.
Wir haben die Fenster in dem roten Subaru ihrer Mutter heruntergelassen und singen laut den Text von Godbye Earl von The Chicks mit. Meine Haare wirbeln im Wind und ich bereue es fast, sie überhaupt zurecht gemacht zu haben. Die vordersten Partien habe ich geflochten und am Hinterkopf mit einem Zopf befestigt. Wahrscheinlich kann ich sie nach der Autofahrt wieder aufmachen. Doch im Moment stört mich das wenig. Ich wippe meinen Kopf im Takt und schaue zu Val rüber, als wir gemeinsam den Refrain singen. In diesem Augenblick vergeht die Zeit langsamer, alles ist perfekt und der Sommer könnte ewig weitergehen.
Zum Schluss summen wir die Melodie nur noch mit und als das nächste Lied einsetzt, fragt mich Val: „Hast du heute vor wieder mit Kaleb rumzumachen?" Um ihre Frage zu unterstreichen, wackelt sie anzüglich mit den Augenbrauen.
Ich lache und stelle ihr eine Gegenfrage. „Hast du heute vor endlich mit Rodrigo rumzumachen?" Seit einem Monat kann ich nun schon mitansehen, wie die beiden sich anschmachten, doch nichts dagegen unternehmen.
„Das ist kompliziert", seufzt sie und biegt von der Landstraße auf einen Waldweg ab.
„Du könntest auch einfach so ein bisschen Spaß haben, ohne gleich eine Beziehung einzugehen", schlage ich vor und zucke mit den Schultern. Da wir nicht mehr so schnell fahren, klappe ich die Sonnenblende runter und richte im Spiegel meine Haare.
„Das haben wir schon versucht. Vor zwei Jahren waren wir fast ein Jahr lang zusammen, bis wir beschlossen haben, dass wir noch zu jung für etwas Ernstes sind und uns erst ausleben möchten."
„Und das hat wer beschlossen?", frage ich skeptisch und klappe die Sonnenblende wieder nach oben.
„Wir beide. Wir sind danach immer gute Freunde geblieben und sogar das ein oder andere Mal wieder im Bett gelandet, aber jetzt wo Rodrigo aufs College geht, möchte ich mich nicht wieder auf eine Beziehung einlassen", erklärt sie, doch für mich klingt das eher, als würde sie sich selbst davon überzeugen müssen.

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Silent Country
RomanceVeröffentlicht seit März 2024 - unregelmäßige Updates Nura war ein braves Mädchen. Gute Noten, Kapitänin der Volleyballmannschaft und gute Freundin. Doch Nura war nicht glücklich. Sie wollte mehr. Freiheit. Als sie ihren Wünschen nachgeht und Dinge...