Mit meinem Koffer in der Hand und meinem Rucksack auf dem Rücken, bin ich auf der Suche nach Lilly. Wir hatten ausgemacht uns am Eingang zu treffen, damit sie nicht extra für den Parkplatz bezahlen muss. Da ich Lilly zuletzt vor zwei Jahren gesehen habe, auch wenn es nur für ein paar Stunden war, kann ich mich noch gut erinnern, wie sie aussieht. Ich dürfte sie also nicht verpassen.
Viele Menschen rasen an mir vorbei. Springen in ein Taxi, begrüßen ihre Liebsten oder verabschieden sich von ihren Freunden. Vor mir schlendert ein Pärchen Hand in Hand.
Ich laufe die Reihe parkender Autos ab, bis ein weißer Pickup Truck in meinem Sichtfeld erscheint. So etwas würde man doch fahren, wenn man eine Farm besitzt, oder? Ich gehe weiter, aber langsamer und sehe, dass sich die Fahrertür öffnet. Blonde Haare sind das Erste, dass ich erblicke. Eine Frau in blauen Jeans, mit schwarzen Stiefeln und einem weißen T-Shirt, das in der Hose steckt und von einem breiten braunen Ledergürtel zusammengehalten wird, steht mir gegenüber. Ihre Mundwinkel sind zu einem breiten Grinsen verzogen. Lilly.
"Ich freue mich, dass du da bist." Sie breitet die Arme aus, noch bevor sie bei mir angekommen ist und zieht mich in eine feste Umarmung. "Schön siehst du aus. Du hast dich kein bisschen verändert. Ich habe allerdings ein paar mehr Falten um die Augen bekommen." Lachend hält sie mich an den Armen fest, um mich zu betrachten. Als mein Blick jedoch auf ihre braunen Augen fällt, kann ich nur ein paar kleine Falten erkennen, die ich ihrer liebevollen Art zuschreiben kann. Mit ihren siebenunddreißig Jahren hat sie keine einzige Falte, die durch das Alter kommt. Lediglich regelmäßiges Lachen kann dafür verantwortlich sein. Ihre Haut hat eine gesunde bräune, mit einigen Sommersprossen und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sie gute sieben Jahre jünger schätzen.
"Es freut mich auch hier zu sein", gestehe ich und bringe ein kleines Lächeln zustande.
"Na komm, fahren wir los, bevor ich noch einen Strafzettel bekomme." Lilly deutet mit einem Nicken in Richtung des weißen Trucks und nimmt mir den Koffer aus der Hand, um ihn auf die Ladefläche zu heben. Mein Rucksack folgt.Im Auto ist es nicht lange still. Lilly fragt mich, ob ich einen guten Flug hatte, wie es Liza und Tara geht, ob Jonathan und meine Mutter immer noch so eklig verliebt sind und ob ich Country Musik mag, damit sie das Radio lauter drehen kann. Ich beantworte ihre Fragen und lausche anschließend den Klängen von , während Lilly leise vor sich hin summt und im Rhythmus auf das Lenkrad trommelt. Falls sie von den Sachen, die in Tacoma passiert sind, Bescheid weiß, lässt sie sich nichts anmerken und fragt auch nicht danach. Das ist gut, denn ich bin nun hier und habe absolut keine Lust mehr an die vergangenen Monate und Wochen zu denken.
Das Fenster ist ein Stück nach unten gefahren und ich genieße die warme Briese auf dem Gesicht. In Tacoma hat es geregnet als ich losgefahren bin. Es fühlt sich also schön an, den Sommer zu spüren und die Hitze sogar riechen zu können. Die warmen Straßen, warme Bürgersteige, warmer Rasen, warme Sonnenstrahlen. Die Kleinstädte, durch die wir fahren sehen aus wie aus einem Fünfzigerjahre Film. Kleine Läden und Geschäfte reihen sich aneinander. Menschen halten auf dem Gehweg an, um miteinander zu plaudern. Alles scheint hier so unbeschwert auszusehen. Genau das, was ich jetzt brauche.
"Das dort ist meiner", unterbricht Lilly meine Beobachtungen und ich folge ihrem Finger und sehe einen kleinen Laden, über den auf dunkelgrünem Holz in weiß geschwungenen Lettern Lilly's Shop steht. "Er trägt zwar meinen Namen, zum größten Teil, weil ich mich um alles kümmere, aber wir verkaufen dort verschiedenste Produkte von den umliegenden Farmen und Ranches, die zu wenig produzieren, um ihr eigenes Geschäft zu eröffnen. Von mir gibt es auch einige Produkte."
Wir fahren an dem Laden vorbei und lassen ziemlich schnell auch die anderen Gebäude hinter uns bis wir nur noch an Feldern und Wiesen vorbeifahren.Wir biegen in einen kleinen staubigen Weg ein, fahren vorbei an noch mehr Wiesen und Feldern, bis ich einen braunen Zaun erkenne und wenig später auch ein paar Pferde in der Ferne ausmachen kann.
"Deine?", frage ich interessiert nach. Jonathan hat zwar behauptet, dass es hier Pferde gibt, aber die Koppel erscheint mir riesig und ich kann noch immer keine Gebäude erkennen. Kleine Farm, ist klar. "Ja, aber wir haben nicht mehr viele Pferde. Wir haben ein paar Rinder und bleiben ansonsten bei der Obstplantage", erklärt sie, während sie zu dem nächsten Lied im Rhythmus auf dem Lenkrad trommelt.
Es dauert nicht lange und ich sehe die ersten Rinder, die von Männern auf Pferden zusammengetrieben werden.

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Silent Country
Roman d'amourVeröffentlicht seit März 2024 - unregelmäßige Updates Nura war ein braves Mädchen. Gute Noten, Kapitänin der Volleyballmannschaft und gute Freundin. Doch Nura war nicht glücklich. Sie wollte mehr. Freiheit. Als sie ihren Wünschen nachgeht und Dinge...