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Es ist eine Woche seit der Party vergangen und eine gewisse Routine hat sich in meinen Alltag eingeschlichen. Gemeinsam mit Lilly frühstücke ich, gehe in den Laden und helfe Valeria, weil vormittags die meisten Kunden kommen. Am Dienstag habe ich sogar Dawson kennengelernt, weil er die Schicht mit Val getauscht hat. Zum Mittag fahren wir wieder nach Hause, machen Mittag und bereiten Snacks für die anderen vor. Ich bleibe dann im Haus, widme mich meinen Freundschaftsarmbändern oder helfe den anderen bei der Ernte. Dieser Tagesablauf gefällt mir. Ich habe das Gefühl gebraucht zu werden und schaffe tatsächlich etwas am Tag. Wenn wir etwas pflücken und am nächsten Tag im Laden verkaufen, fühlt sich das gut. Es sind sinnvolle Aufgaben. Außerdem habe ich so kaum Zeit zum Nachdenken, denn so ganz möchte mich meine Vergangenheit noch nicht in Ruhe lassen. Es sind die kleinen Momente, wenn ich mit meinen Eltern telefoniere oder jemand eine Geschichte aus der Schule erzählt, dann denke ich an das ganze Drama von vor einigen Wochen zurück. Aber im Großen und Ganzen läuft alles super. Besonders weil ich Sam seit der Party nicht mehr begegnet bin und mir seine durchdringenden Blicke dadurch erspart geblieben sind.

„Nura, bist du fertig?" Lilly steht am Türrahmen zum Badezimmer und schaut mich abwartend an. Wir gehen heute in die Stadt zu einem Fest. Als ich sie nach dem Anlass gefragt habe, hat sie nur „Sommer" geantwortet, weil ich damit aber nicht viel anfangen konnten, hat sie mir darüber hinaus erklärt, dass es so ziemlich zu Beginn jeder Jahreszeit ein kleines Fest gibt. Restaurants und Cafés stellen ihre saisonalen Produkte vor, die Tanzschule führt ein kleines Programm auf und der Chor der örtlichen High School singt seine besten Lieder.
Ich komme mir vor wie in einer Folge Gilmore Girls.

„Ja, geht das so?", frage ich sie und schaue an mir runter. Ich trage ein hellblaues Sommerkleid mit breiten Trägern, die sich am Rücken kreuzen. Dazu werde ich meine weißen Turnschuhe tragen und meine Haare offen lassen. Weil es aber sehr heiß ist, trage ich einen Haargummi um mein Handgelenk, um sie jederzeit hochbinden zu können. Auch heute verzichte ich auf Make-up und habe lediglich Sonnencreme auf die freien Hautstellen aufgetragen.

„Du siehst sehr schön aus", bestätigt mir Lilly und lächelt mich warm an. Sie selbst trägt eine dunkelblaue Jeans und eine sonnengelbe kurzärmlige Bluse. Ihre Haare befinden sich bereits in einem Zopf.

„Danke, du siehst auch sehr schön aus." Lilly sieht eigentlich immer schön aus. Egal ob verschwitzt in Arbeitsklamotten oder in einem Sommerkleid. Sie strahlt dieses Selbstbewusstsein aus, dass es eigentlich egal ich, was sie trägt.

„Okay, dann können wir los. Wir müssen nur noch bei Judy vorbei und Freddie abholen. Oder willst du schon vorfahren?"

„Nein, kein Problem. Ich fahre bei dir mit."

Wenig später sitzen wir in Lillys weißem Truck, der viel neuer und geräumiger ist als der Ford Ranger und fahren auf einem Feldweg lang, vorbei an den Reihen ihrer Obstbäume.

„Das Grundstück hat eigentlich mal Judy gehört, doch nachdem ihr Sohn und seine Frau gestorben sind, konnte sie sich nicht mehr drum kümmern", beginnt mir Lilly nach einer Weile zu erzählen. „Ich habe mit Sam damals in einer kleinen Wohnung in der Stadt gewohnt und noch in dem Motel an der Sunset Lane gearbeitet. Ich habe einen Kredit aufgenommen und gemeinsam mit Toby und Isaac Judy die Farm abgekauft. Damals ging das noch, heute würde man mir in der Situation, in der ich mich befunden habe, kein Geld mehr geben."

Ich bin neugierig und möchte einige Fragen stellen, doch weiß nicht, ob ich es lieber lassen so. Allerdings hat Lilly selbst begonnen mir davon zu berichten.

„Sams Vater hat nicht mit euch zusammengelebt?" Ich beiße mir auf die Unterlippe, weil ich noch immer unsicher bin, ob ich dieses Thema ansprechen soll.

„Anderson war da schon nicht mehr in unserem Leben." Sie seufzt auf und trommelt mit ihren Fingern auf dem Lenkrad. Eine Angewohnheit, die ich bei ihr schon einige Male beobachtet habe und normalerweise ist es zum Takt der Country Musik, die aus dem Radio tönt, doch nun ist es ein anderer Rhythmus. „Wie du dir vielleicht denken kannst, habe ich Sam sehr jung bekommen. Ich habe seinen Vater in der High School kennengelernt. Wir waren noch nicht lange zusammen, als ich schwanger wurde. Ich war erst sechzehn Jahre alt." Sie hält kurz inne und ich erkenne ein kleines Lächeln auf ihrem Gesicht. Kurz rechne ich nach. Sam ist also einundzwanzig. „Unsere Familien waren natürlich nicht begeistert, haben uns aber so gut es ging unterstützt. Ich habe ein Jahr Auszeit genommen und mit neunzehn meinen High School Abschluss nachgeholt. Sam ging in den Kindergarten und wir waren alt genug unser eigenes Geld zu verdienen. Ich wollte nicht mehr von meiner Familie abhängig sein. Also habe ich mir einen Job gesucht. Anfangs in einem Café und später in einem Restaurant als Kellnerin. Anderson hat in einer Baufirma etwas gefunden, aber irgendwie war er nie zufrieden. Er hatte dieses Bild im Kopf, dass er der Mann ist und unsere Familie versorgen muss. Aber es war alles perfekt. Wir hatten eine kleine Wohnung, wurden von unseren Familien unterstützt und Sam war glücklich. Er hat immer zusammen mit seinem Dad alte Johnny Cash Platten gehört." Ihr Lächeln ist nun ganz breit auf ihrem Gesicht zu erkennen und ich merke, dass es ansteckend ist, weil auch meine Mundwinkel sich heben. Aber ich befürchte, dass sie mir gleich etwas Trauriges erzählen wird. „Wir hätten wirklich nicht mehr zum Leben gebraucht als unsere kleine Familie. Aber Andy wollte mehr für uns. Ein Haus, einen Garten und ein besseres Leben. Er hat überlegt, wie er an mehr Geld kommen kann, bis er auf der Baustelle einen Kollegen kennengelernt hat, der ihn in komische Geschäfte verwickelt hat. Er hat in verschiedenste Sachen investiert und zuerst dachte ich, dass es eine gute Idee wäre. Er hat nicht viele Geldbeträge gesetzt und es hat anfangs auch funktioniert. Er hat ein paar Hundert Dollar Gewinn gemacht und war so überzeugt von der Idee, dass er mehr gesetzt hat und angefangen hat zu wetten. Er meinte es wäre das gleiche System und man müsste nur erkennen, wie es funktioniert. Aber das ist die Falle gewesen. Die Leute sollen denken, dass sie wissen, wie es geht, wenn sie doch eigentlich hintenrum bestohlen werden. Er hat sich verschuldet und sogar das Geld, was wir für unsere Hochzeit angespart hatten, verspielt. Wir haben zu der Zeit viel gestritten und Sam war leider alt genug, um alles mitzubekommen. Er hat es vielleicht nicht verstanden, aber er wusste, dass wir nicht glücklich waren. Wie kann ein Kind glücklich sein, wenn es seine Eltern nicht sind?"
Es ist eine rhetorische Frage, das weiß ich und dennoch hätte ich gerne eine tröstende Antwort parat.
In der Ferne kann ich bereits ein kleines gelbes Haus mit grüner Veranda entdecken. Wir müssen also bald da sein, doch ich würde gerne wissen, wie die Geschichte endet. Vielleicht liegt da auch die Ursache, warum Sam nicht spricht.

Silent CountryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt