Der Brief

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Der östliche Himmel verfärbte sich an diesem zwölften April langsam gräulich. Die Sterne begannen allmählich zu verblassen, erste Vögel begannen ihre gezwitscherten Gespräche, und einige wenige Autos krochen bereits die Straßen entlang, die Scheinwerfer wie leuchtende Augen vor sich ausgestreckt. Das kleine Dorf St. Alderton wurde freilich noch von der hektischen Berufstätigkeit der Großstädte verschont. Verschlafen schmiegten sich die Häuser an die sanften Hügel und schroffen Klippen der Südküste Englands, nur ein paar Straßenlaternen unterstützten die aufgehende Sonne in ihren Versuchen, die Welt in Farbe zu tauchen.

Keira schlug schlagartig die Augen auf. Ihr Herz pochte. Die Idee war blitzartig in ihrem Kopf aufgetaucht, als sie in eine Art Dämmerschlaf hinübergeglitten war, und sie konnte sie nicht ignorieren. Sie beugte sich über ihr Bett und knipste ihre Nachttischlampe an. Es war erst halb sechs am frühen Morgen, aber sie konnte unmöglich wieder einschlafen. Vielleicht ... wenn ich Glück habe ... ich muss es wissen!
Sie stand auf, schlich aus ihrem Zimmer auf den Flur hinaus und die Treppe hinunter, wobei sie sich an den Rand quetschen musste, da die alten Holzstufen teilweise geradezu unanständig knarzten. Nur bei der drittletzten Stufe - einer der Schlimmsten - ertönte ein klagendes, nicht gerade leises Quietschen, was Keira dazu brachte, wie erstarrt stehenzubleiben und zu horchen, ob jemand wach geworden war. Als es im Haus still blieb, atmete sie erleichtert aus und schaffte es tatsächlich bis zur Haustür, ohne weiteren verräterischen Lärm zu verursachen. Sie drückte die Türklinke hinunter, gespannt, was sie womöglich im Briefkasten entdecken könnte. Doch ein hineinhuschender, schwarzsilbern gestreifter Schatten verhinderte zunächst ihr Vorhaben.

"Nieva, sei bloß ruhig drinnen!", flüsterschrie Keira der Katze hinterher, welche offenbar vor der Tür herumgelungert hatte und in Keira einen früheren Weg zum Futter sah. Keira verdrehte die Augen und wandte sich wieder ihrem eigentlichen Anliegen zu. Doch im Briefkasten waren nur eine von ihrer Mutter geradezu vergötterte Muggelzeitschrift und ein Werbeprospekt mit der Aufschrift: Müde von den alternden Haushaltsgeräten? Sauberhofer's An- und Verkauf bietet tolle Rabatte auf alle Produkte!

"Nein, bin ich nicht", murmelte Keira und ging ernüchtert zurück in den Hausflur, wo sie die Post auf das alte Schränkchen legte. Auch wenn ihr tief im Innern klar gewesen war, dass sie eine Enttäuschung erfahren würde, hätte es ja sein können, dass eine extrem schnelle Eule ihren Brief lieferte. Oder eine extrem dumme Eule.
Sie schaute nach Nieva, die, sobald sie Keira sah, lauthals maunzte und anderes Futter forderte. Keira ignorierte sie und dachte bei sich, dass die Katze wirklich unfassbar verwöhnt und eingebildet war, während sie in ihr Zimmer zurückkehrte. Mittlerweile war die Sonne am Horizont erschienen und kündigte einen warmen Frühlingstag an.

Beim Frühstück löffelte Keira schweigend ihre Haferflocken.
"Die Post lag schon auf der Kommode. Warst du schon früher wach?", erklang die Stimme von Felicia Stuart hinter der Zeitschrift. Keira nickte, doch dann fiel ihr ein, dass ihre Mutter das nicht sehen konnte, und sagte: "Ich habe nachgeschaut, ob mein Brief schon da ist. War er aber nicht."
"Der kommt doch an deinem Geburtstag. Also morgen. Warum machst du so ein Theater um einen Tag?", brummte ihr Vater. Als Keira einen kurzen Blick auf ihn warf, merkte sie, dass es Robert nicht im Geringsten kümmerte, ob der Brief heute oder morgen oder gar nicht kam. Er saß da mit hochrotem Kopf und schon jetzt mit einem Glas Feuerwhisky in den Händen. Bis vor ein paar Jahren war er Treiber bei den Brighton Beasts gewesen, doch sein zunehmender Alkoholkonsum und die daraus resultierende Aggressivität hatten zu seinem Rauswurf geführt - was das Problem noch verschlimmert hatte. Keira zuckte als Antwort auf seinen Kommentar nur vage mit den Schultern.

Ein lautes, anklagendes Miauen erklang plötzlich aus der Gegend ihrer Füße. Sie blickte hinab und sah sich sofort Nievas hypnotisierendem Blick ausgesetzt, welchen die Katze immer verwendete, wenn sie etwas von ihren zwangsweise geduldeten, an besonderen Tagen sogar gemochten Besitzern wollte. Keira hatte, seit Nieva ein Kätzchen war, einen spezielle Verbindung zu ihr gehabt, was, so spekulierte sie, dadurch zustande kam, dass sie ihr so gut wie jeden Tag heimlich ein Stück von was-auch-immer-im-Kühlschrank-war zusteckte; die vornehme Empfängerin nahm diese Nahrung im Gegensatz zu ihrem eigenen Futter gierig entgegen, welches sie "ertrug" und Keiras Meinung nach nur aß, um nicht zu verhungern.

Secrets of Hogwarts: Gesang des WassersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt