Zum Bahnhof

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Robert besaß einen Führerschein der Muggel, und so setzten sich Keira und Josie auf die Rückbank des grausilbernen Volvos, um sich nach London fahren zu lassen. Keira hatte mittlerweile ein unangenehmes Ziehen im Bauch und ihr Atem schien hektischer zu sein als gewöhnlich. Jetzt geht's los, ich komme wirklich nach Hogwarts!, dachte sie unentwegt. Diese Aussicht schien surrealer zu werden, je näher sie ihr rückte. Mit einem Mal wünschte Keira sich, sie hätte Nieva mitnehmen können, oder ein anderes Haustier. Wenn keiner von ihren Mitschülern sie mögen sollte, hätte sie immerhin noch einen tierischen Freund. Aber Nieva hätte sich niemals freiwillig aus ihrem "Revier" begeben und Keira hatte nicht über diese Möglichkeit nachgedacht, als sie in der Winkelgasse war. Wenn ihre Eltern ihr überhaupt ein Tier gekauft hätten. Ist sowieso zu spät, ich muss ohne auskommen, sagte sich Keira, darüber nachdenken bringt nichts.

"Hast du auch sicher alles dabei?", riss ihr Vater sie aus ihren Gedanken.
"Ja, glaub schon."
"Du sollst nicht glauben, du sollst wissen. Ich will nicht in London sein und dir fällt ein, dass du deinen Kessel vergessen hast oder sonst was!"
"Jaha, dann weiß ich es halt. Ich hab gestern schon gepackt."
"Du merkst es, wenn du da bist. Wenn wir dir dein Zeug nachschicken müssen, dauert es 'ne Weile. Dann musst du erstmal ohne leben."
"Okay!"

Keira lehnte sich frustriert in ihren Sitz zurück. Typisch für ihren Vater, dass er alles, was sie tat, kontrollierte und immer einen Grund zum Kritisieren fand. Das würde sie definitiv nicht vermissen. Auch nicht, dass er alles, was er nach einer solchen Auseinandersetzung tat, zehnmal aggressiver machte als normal. Die Gangschaltung, die er nun malträtierte, als sie auf die Schnellstraße auffuhren, tat Keira leid.
Sie blickte durch ihr Fenster nach draußen, wo sie die Umgebung nur in vorüberziehenden Schlieren wahrnahm. Braun, gelblich, smaragdgrün, häufig durchstechende Sonnenstrahlen, die ihre Augen irritierten; graue Schatten von vorbeifliegenden Städten oder Dörfern; dann wieder goldene Felder, Wiesen mit leuchtenden Herbstblumen, Wälder mit bereits fallenden Blättern, die ein Farbenspiel verursachten, und über all dem ein klarer, blassblauer Himmel. Es kündigte sich ein angenehm warmer Tag an, womöglich der letzte des Jahres. Keira wusste nicht, ob sie darüber froh oder bedrückt sein sollte. Einerseits schien das Wetter ein gutes Omen für den neuen Abschnitt in ihrem Leben zu sein, andererseits würde sie von all dem nicht viel mitbekommen, da sie den ganzen Tag im Zug verbringen würde.

"Keira? Was meinst du, in welches Haus du kommst?" Josie hatte sich zu ihrer Schwester hinübergelehnt und flüsterte jetzt, um Robert aus ihrer Unterhaltung auszuschließen.
"Keine Ahnung", wisperte Keira zurück. "Vielleicht Ravenclaw. Wie Mum. Oder halt Gryffindor, wie Dad, aber das muss nicht unbedingt familiär sein. Ich denke, alles ist gleich wahrscheinlich. Ist mir aber relativ egal, ich finde jedes Haus hat seine Stärken, und ich kann den Hut sowieso nicht beeinflussen bei seiner Entscheidung."
"Doch, kannst du", kam es auf einmal von vorne. Robert hatte sie anscheinend dennoch gehört.
"Du kannst dem Hut sagen 'Ich will nach Gryffindor' und wenn es nicht komplett unpassend ist, schickt er dich dahin. Hat bei mir geklappt, also wird es bei dir auch gehen."
Keira stockte kurz, während sie sich eine Antwort überlegte, die ihren Vater zufriedenstellen würde.
"Wie gesagt, es interessiert mich nicht, in welches Haus ich komme. Also doch, es interessiert mich schon", korrigierte sie sich, innerlich die Augen verdrehend, "aber ich habe kein Lieblingshaus. Der Hut wählt passend zu den Charaktereigenschaften, ich will da gar nicht reinreden. Dann ist es ... irgendwie nicht richtig."
"Schön, wenn du meinst. Ich sage nur, die Möglichkeit besteht. Ob du sie nutzt, ist deine Sache", erwiderte Robert, und klang dabei so, als wäre es unfassbar enttäuschend und dumm, sie nicht zu nutzen.
Keira antwortete nicht. Es hätte ohnehin keinen Sinn; Wenn ihr Vater eine Meinung, eine Idee, einen Plan hatte, konnte ihn nichts und niemand davon abbringen.

Secrets of Hogwarts: Gesang des WassersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt