Schweigen ist Gold

7 2 0
                                    

Keira Gehirn brauchte einen Moment, um diese Information zu verarbeiten. Ihr war, als würde sich ihre ganze bekannte Welt auf den Kopf drehen und dann in sich zusammenbrechen.
"Aber wie ... warum ... niemals, ich ... weiß nicht, was ich sagen soll", stammelte sie schließlich.
Die Sirene sah sie mitfühlend an.
"Ich kann nachvollziehen, wie du dich fühlen musst, dennoch musstest du es erfahren", sagte sie.
Keira nickte niedergeschlagen. Sie wünschte sich allerdings, dass ihre Eltern - nein, ihre Tante und ihr Onkel - ihr früher davon erzählt hätten. Etwas ergab plötzlich Sinn.
"Das hat mein Vater - mein Onkel - gemeint, als er sagte, er hätte sich nicht darauf einlassen sollen!", staunte sie. "Ich dachte, ich sei ungeplant gekommen oder so."
"Irgendwie stimmt das ja auch", stimmte die Sirene zu. "Nur nicht in dem Zusammenhang, in dem du dachtest."
"Wenn du wirklich meine Mutter bist", begann Keira zögerlich, "wie heißt du? Und wie hieß mein richtiger Vater?"
Ein Ausdruck unsagbarer Qual huschte kurz über das Gesicht der Sirene bei der Erinnerung an eine längst vergangene, aber nie verheilte Wunde.
"Mein Name ist Alainna. Dein Vater hieß Finn. Ich nehme an, seine Schwester hat dir nichts von ihm erzählt?"
"Meine Schwester und ich haben - nein, meine Cousine und ich - also, wir haben mal gefragt, ob sie Geschwister hat, und sie hat gesagt, ihr kleiner Bruder sei jung gestorben. Aber sie hat nicht gesagt, wie oder warum", antwortete Keira. Sie musste sich anstrengen, um nicht hier und jetzt auf das tröstlich aussehende Moos zu sinken und zu weinen.
Alainna sprach erneut und sie klang bitter: "Sie hat getan, was sie versprochen hat. Finn hat ihr gesagt, sie solle dir nichts davon erzählen, damit du nicht deine ganze Kindheit in dem Wissen verbringen musst, dass es sich bei deinen Eltern nicht um deine richtigen Eltern handelt. So hattest du die Möglichkeit, ganz normal aufzuwachsen, ohne dass 'Was wäre, wenn'-Fragen in deinem Kopf herumgespukt sind. Und das war alles, was wir wollten, für den Fall, dass ... du nicht bei uns leben könntest."
Einige Minuten blieben beide still, in ihren Gedanken versunken.
"Aber was soll ich tun?", fragte Keira schließlich. "Soll ich zurückgehen und sagen, es sei nichts passiert? Ich kann nicht in dem Wissen leben, dass alle - gut, alle außer Josie - die Geschichte kennen. Wobei", fiel Keira ein, "weiß meine Mutter, ich meine, Felicia, wie ihr Bruder gestorben ist?"
"Ich denke nicht, aber da er nicht gekommen ist, um dich abzuholen, hat sie sich wohl den Rest zusammengereimt."
"Also wurde sein Körper nie gefunden? Sorry", murmelte sie zerknirscht.
"Schon in Ordnung", winkte Alainna ab, doch sie wirkte verletzt. "Nein, soweit ich weiß nicht. Aber in dem Zusammenhang ist das, was ich weiß, auch nicht allzu umfangreich."
"Ich könnte fragen. Aber dann müsste ich auch den Rest auffliegen lassen, und das willst du nicht, oder?", fragte Keira.
"Wenn du es für dich behalten kannst, wäre ich dir sehr dankbar", meinte Alainna. "Ich würde dir aber auch keinen Vorwurf machen, wenn du es erzählen möchtest. Und eine Lösung finden willst."
Keira überlegte eine Weile. Würde es sich lohnen, mit ihren Adoptiveltern darüber zu reden, oder würde dadurch alles noch schlimmer werden? Vor allem die Worte ihres Vaters tauchten immer wieder vor ihrem geistigen Auge auf.
"Nein, geht schon", beschloss sie schließlich.
Alainna wirkte erleichtert.
"Danke. Es ist vermutlich besser so, für alle Beteiligten."
Keira nickte zustimmend. Dann fiel ihr siedend heiß etwas ein.
"Ach du ...", sagte sie scharf, gerade noch rechtzeitig die Anwesenheit ihrer Mutter bedenkend. Sie grinste schief und begann erneut.
"Ich muss zurück zum Schloss. Die anderen denken wahrscheinlich, ein Drache hat mich gefressen oder so."
"Soweit ich weiß, gibt es in diesem Wald keine Drachen, aber ich verstehe, was du meinst", stimmte Alainna lächelnd zu. Dann wurde sie ernst.
"Bevor du gehst, muss ich dich aber noch vor etwas warnen", fügte sie hinzu, und Keira kniff misstrauisch die Augen zusammen.
"Wieso, wovor denn?"
"Sirenen haben noch eine andere Gabe."
Mit diesen Worten drehte Alainna sich zur glatten Oberfläche des Sees und streckte eine Hand aus. Das Wasser wölbte sich an der Stelle, die sie fokussierte, stieg immer höher, bis ein leises 'Plop' zu hören war und ein Wasserball von einem Durchmesser von etwa zehn Zentimetern in der Luft schwebte, von Alainnas leicht zitternden Fingern in der Luft gehalten wie mit einem Schwebezauber.
Keira merkte, dass ihr der Mund offen stand.
"Was ist das?", fragte sie perplex. Alainna ließ die Hand sinken und zeitgleich plumpste der Wasserball, von der Schwerkraft besiegt, platschend zurück in den See.
"Wir können Wasser bewegen. Und es ist wichtig, dass du es erfährst, denn bei den meisten meines Schwarms bildet sich diese Fähigkeit zwischen dem zwölften und dreizehnten Lebensjahr aus. Nun bist du keine vollständige Sirene und euer Alterungsprozess gestaltet sich etwas anders als der unsrige, aber ich will nicht, dass du eines Tages aufstehst und im Schlaf ausversehen ein Schwimmbad aus eurem Haus gemacht hast. Wenn du merkst, dass du Wasser kontrollieren kannst, brauchst du aber keine Angst zu haben. Mit etwas eigenem Training hast du das schnell im Griff, du solltest keine Hilfe benötigen. Falls doch, weißt du, wo du mich findest", schloss sie und Keira wusste, dass es nun wirklich Zeit war, sich auf denWeg zu machen.
"Okay, dann gehe ich jetzt", verabschiedete sie sich unbeholfen. "Finde ich denn aus dem Wald raus?", fragte sie dann.
Alainna nickte.
"Ich kann dich zu mir singen, aber auch zu jedem anderen Ort. Zumindest, wenn ich ihn kenne."
"Gut. Bis irgendwann", sagte sie, ergänzte jedoch: "... Mutter."
Als sie sich zum dunklen, unbekannten Wald wendete, konnte sie Alainnas Lächeln hören, als sie antwortete: "Auf Wiedersehen, meine Tochter."

Secrets of Hogwarts: Gesang des WassersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt