Nicht das Ende der Welt

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Als es längst dunkel war und der Zug langsam bremste, kauerte Keira immer noch eingeschlossen mit ihrem Gepäck in der winzigen Toilette. Obwohl sie sich die ganzen Ferien gewünscht hatte, möglichst schnell wieder nach Hogwarts zurückzukehren, konnte sie sich jetzt, wo es soweit war, nicht dazu aufraffen, sich ihren aufgeregten Mitschülern anzuschließen. Der finsterste und pessimistischste Teil ihres Gehirns - im Moment mit dem größten Einfluss - war dafür, einfach hier sitzenzubleiben und wieder nach London zu fahren. An andere Orte reisen oder einfach in King's Cross vor sich hinvegetieren, in einem halben Jahr pünktlich zu den Sommerferien wieder nach Hogwarts kommen und alle wieder einsammeln, die sich gerade unter viel Gepolter und Rufen zum Ausstieg bereit machten ...

Aber dazu kam es nicht. Der Hogwarts-Express war zum Stehen gekommen und schnaufte erschöpft von der langen Fahrt, die ersten Schüler strömten bereits auf den Bahnsteig. Keira überlegte gerade, ob sie nicht doch gehen sollte, da wurde ihr diese Entscheidung abgenommen. Es ruckelte plötzlich an der verriegelten Tür und eine dumpfe Stimme fragte höflich und etwas unangenehm berührt: "Entschuldigung? Ich will nicht stören, aber wie lange brauchst du noch? Wir müssten ja schon raus, aber ich muss echt dringend ..."
Keira kannte die Stimme irgendwoher, aber sie konnte sie nicht zuordnen. Sie betete kurz, dass es nicht Jade oder eine ihrer Freundinnen war, dann räusperte sie sich; die Slytherin-Jungen waren die letzten gewesen, mit denen sie geredet hatte, und ihre Stimme hörte sich vermutlich an wie verrostete Zahnräder.
"Äh, ich bin fertig, du kannst sofort rein, Moment ..."
Sie raffte ihre wenigen Gepäckstücke zusammen und schloss die Tür auf. Das Mädchen, dass davor wartete, schaute auf und lächelte erleichtert. Keira erkannte nicht sofort, wer es war, doch dann fiel es ihr wieder ein. Es war das Mädchen, das ihr bei der Hinfahrt mit ihrem Koffer geholfen hatte.
"Danke, ehrlich. Alle Klos waren warum auch immer die ganze Zeit besetzt. Zumindest als ich hin wollte."
Dann fiel ihr Blick auf Keiras Koffer und sie zählte offenbar eins und eins zusammen, denn sie runzelte die Stirn und fragte: "Das kommt vielleicht komisch rüber, aber warst du die ganze Fahrt da drin?"
Keira nickte knapp und murmelte: "Die Abteile waren voll."
Das Mädchen kniff ihre leuchtend grünen Augen zusammen.
"Aber irgendwo müssen doch Freunde von dir sein."
"Die habe ich nicht gefunden."
Keira sah, wie ihr Gegenüber nachdachte. Dann schien sie zu einem Schluss zu kommen.
"Ich verschwinde jetzt kurz da drin, aber wenn du magst, kannst du warten und wir fahren zusammen zum Schloss. Meine Freunde habe ich vorgeschickt, die müssten sowieso schon alle weg sein. Na gut, fast alle." Bei diesen Worten verdüsterte sich ihr Gesicht. "Also, wenn du willst, bleib einfach stehen."

Sie schloss die Toilettentür hinter sich und ließ Keira auf dem Gang zurück. Dieser war mittlerweile totenstill. Keira versuchte, in der Dunkelheit draußen etwas zu erkennen, aber auch der Bahnhof schien bis auf einige Nachzügler vollkommen leer. Als das Mädchen wieder erschien, machten sie sich auf den Weg nach draußen. Dort zuckten sie vor der beißenden Kälte zusammen und gingen hastig zu den Kutschen. Während sie über den vor Frost rutschigen Bahnsteig schlitterten, meinte das Mädchen bibbernd: "Ich bin übrigens Lily."
"Ich bin Keira. Wir haben uns Anfang des Schuljahrs schon mal gesehen, aber ich weiß nicht, ob du dich daran erinnerst. Es war nur kurz, du hast mir mit meinem Koffer geholfen", erwiderte Keira ebenso zitternd wie Lily.
Diese schien zu überlegen und nickte dann.
"Ja stimmt, jetzt wo du es sagst ... du bist neu nach Hogwarts gekommen, oder? Ich bin in der Zweiten. Kennst du ..."
Doch sie verstummte, seufzte frustriert und fragte dann: "Ernsthaft, Sev? Ich hatte doch gesagt, du sollst nicht auf mich warten. Du frierst dich doch tot."
Keira wunderte sich, warum Lily sich auf einmal unterbrochen hatte und mit wem sie da sprach. Soweit sie in der alles verschlingenden Finsternis sagen konnte, waren sie beide die einzigen, die noch hier waren. Doch dann bewegte sich etwas vor einer Kutsche. Als sie und Lily näher kamen, erkannte Keira einen schmächtigen, kränklich aussehenden Jungen, der mit seinen schwarzen Haaren und Kleidern noch blasser wirkte. Im Gegensatz zu Lily schien er froh zu sein, nicht auf sie gehört zu haben.
"Ist nicht so schlimm. Aber lass uns einsteigen, sonst verpassen wir oben alles", meinte er achselzuckend und kletterte in die Kutsche. Keira blickte zu Lily, die resigniert lächelnd die Augen verdrehte. Dann stiegen die beiden auch in die Kutsche.

Secrets of Hogwarts: Gesang des WassersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt