Zuhause

12 4 3
                                    

Auch das Spiel zwischen Ravenclaw und Hufflepuff ein paar Wochen später weckte in Keira nicht viel Interesse, aber sie musste zugeben, dass sie sich ein bisschen über den haushohen Sieg ihrer Mannschaft freute. Immerhin ging es um einen Pokal. Aber es bedeutete vor allem eines: die Weihnachtsferien standen kurz bevor.

In Hogwarts war die festliche Stimmung überall zu spüren. Einige Rüstungen trällerten schiefe Lieder, Hagrid hatte zwölf prächtige Tannen aus dem Wald in der Großen Halle aufgestellt, die überschwemmt wurden von Glitzer, Lametta und schwebenden Kugeln, und sämtliche Schlosstürme trugen Mützen aus pudrigem Schnee. In Kräuterkunde trugen sie jetzt mehrere Umhänge übereinander und züchteten Weihnachtssterne (die allerdings bissig waren), und selbst in Verwandlung bekamen sie in der letzten Schulwoche keine Hausaufgaben. Professor Daunton ließ sie in einer Doppelstunde draußen eine Schneeballschlacht veranstalten mit der Begründung, dass es ihr Durchhaltevermögen und ihren Teamgeist fördere.

Alles in allem war Keira in dieser Zeit sehr zufrieden. Nur eine Sache beschäftigte sie und ragte immer bedrohlicher vor ihr auf: Sie würde in wenigen Tagen ihre Familie wiedersehen.
Nicht, dass sie sich nicht auf Josie, ihre Mutter und Nieva freute, aber auch die Begegnung mit ihrem Vater wäre unvermeidbar. Erst in Hogwarts war ihr aufgefallen, wie sehr sie zuhause unter seiner Fuchtel gestanden hatte, und alles in ihr bäumte sich empört dagegen auf. Sie war nicht sicher, ob sie diese Kontrollsucht in den dreiwöchigen Ferien ertragen konnte. Ganz abgesehen davon, dass sich Roberts Alkoholkonsum mit Sicherheit verdoppelt hatte.
Als sie also mit Chris und Allison vor dem Eingangsportal stand, Koffer gepackt und eingequetscht von aufgeregt schnatternden Mitschülern, überkam sie auf einmal der Drang, wieder ins Schloss zu laufen und allein in der Großen Halle unter dem verschneiten Himmel zu sitzen. Selbst als Jade ihr im Vorbeigehen hart in die Rippen boxte, reagierte Keira nicht und blieb in ihre unmöglichen Hoffnungen versunken. Sie stieg ohne ein Wort mit ihren Freunden in eine der selbstfahrenden Kutschen, die sie zum Bahnhof brachten und starrte während der Fahrt nach London ebenso schweigsam auf die gepflegter werdende Landschaft, die am Fenster dahinrauschte. Chris und Allison versuchten, sie in Gespräche zu verwickeln, doch Keira antwortete nur in kurzen Sätzen und deutlich mit ihren Gedanken woanders, sodass sie es nach einer Weile aufgaben.

Erst als sie auf dem Gleis 9 3/4 angekommen und durch die magische Absperrung getreten waren, kam wieder Leben in Keiras Augen. Sie studierte aufmerksam die wartende Menge aus Eltern und Geschwistern und versuchte ihre eigene Familie herauszufiltern. Doch Josie entdeckte sie zuerst und weckte sie entgültig aus ihrer Abwesenheit: Keira versank in einer Wolke aus rotbraunem Haar und erwiderte lachend die stürmische Umarmung ihrer Schwester.
"Killy! Wir warten schon ewig! Wie war's? Welche Zauber hast du gelernt? Zeigst du sie mir, wenn wir zurück sind?"
"Ich darf nicht zuhause zaubern du Troll, das weißt du doch", antwortete Keira in scherzhaftem Tadel. "Aber wie ging es dir so? War irgendwas Interessantes los?"
Sie löste sich aus der Umklammerung und schaute Josie an, die trotz blasser Haut und rötlicher Nase vom Herumstehen auf dem eisigen Bahnhof vor Energie zu strotzen schien.
"Nö, war voll langweilig. Die Muggelschule ist doof, ich will Zaubern lernen und nicht das unnütze Zeug da. Wobei, Nieva hat dein Zimmer besetzt", antwortete Josie. "Wenn du sie rausschmeißt will ich zugucken, wird bestimmt lustig."
Keira stimmte belustigt zu, als sie an die streitlustige Katze dachte. Sie betrachtete Josie, die strahlte als wäre Weihnachten vorverlegt worden. Warum hatte sie auf das hier verzichten wollen?

Dann allerdings wanderte ihr Blick höher und sie erkannte ihre Eltern, die gemächlich auf sie zugingen, als würde es sich nicht um ihr erstes Wiedersehen nach knapp vier Monaten handeln. Wer sie beobachtete sah das Leuchten ihrer Augen, das vor einer Sekunde noch da war, wortwörtlich verblassen. Keira zwang ihre Mundwinkel zu einem Lächeln und umarmte etwas steif ihre Mutter, die irgendetwas flüsterte, doch Keira hörte nicht zu. Sie beobachtete stattdessen ihren Vater, der mürrisch die anderen wiedervereinigten Familien ansah und sich anscheinend weit weg wünschte. Auch jetzt, da Felicia sich von Keira löste und die Reihe an ihn gekommen wäre, nickte er nur kurz zur Begrüßung und meinte: "Lasst uns gehen, das wird ja immer schlimmer hier."
Damit nahm er ohne zu fragen Keiras Koffer und strebte dem Ausgang zu. Ihre Mutter verdrehte die Augen in Richtung Keira, folgte ihm aber ohne Kommentar und auch Josie hopste hinter ihnen her. Keira drehte sich um und suchte Chris und Allison. Glücklicherweise fand sie die beiden mit ihren Familien nur wenige Meter neben sich und tippte ihnen kurz auf die Schultern.
"Ich bin dann weg", verabschiedete sie sich und wies auf ihre Eltern, die stehen geblieben waren und - in Roberts Fall - ungeduldig die Arme verschränkt hatten. "Frohe Weihnachten."
"Verschlaf nicht die Rückfahrt, Träumerchen", feixte Chris und fing sich einen mörderischen Blick von Keira ein.
"Bis nach den Ferien und schönes Fest", wünschte Allison und schaute fragend zwischen den beiden hin und her; sie konnte mit Chris' Aussage nichts anfangen, fiel Keira ein, und beschloss, ihr in einem Brief zu erklären, was es mit ihrem Spitznamen auf sich hatte. Jetzt musste sie los.
Sie winkte ihren Freunden noch einmal und ging hastig zu ihren Eltern. Sie hörte Chris noch rufen: "Freu dich auf Weihnachten, ich habe ein Geschenk für dich, das wird dir den Atem rauben!"
Keira grinste vor sich hin und lief brav hinter ihrem Vater her zum Auto. Auf der ganzen Rückfahrt lamentierte er über ihr unsensibles und rücksichtsloses Verhalten und Keira musste sich zusammennehmen, um nicht einfach aus dem Wagen zu springen.

Secrets of Hogwarts: Gesang des WassersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt