Nell Martin schulterte ihren 30 kg Reiserucksack, nachdem sie eine kurze Pause abseits des Weges gemacht hatte. Der Nadelwald war hier dicht und der Lärm der Stadt lag weit hinter ihr. Die letzten Tage hatte sie damit zugebracht möglichst viele Vorkehrungen für ihre Expedition zu treffen und war seit gestern Abend auf dem Weg ins Ungewisse. Hinter ihr rasselte die Stadt mit den Säbeln und traf die nötigen Vorkehrungen für eine maximale Ausrottung der Drachen. Egal, ob Nell mit ihrer Expedition erfolgreich sein würde oder nicht. Die Entscheidung war bei dem Kongress gefallen, und die Zeichen standen auf Handeln. Sie selbst war studierte Drachenhistorikerin und lehrte üblicherweise an der Universität zu Knoxley, der Stadt die nun hinter ihr lag. Ihr Vorschlag, einen Drachenclan ausfindig zu machen, das Problem zu ermitteln die zu den Gehäuften Angriffen führten und eine diplomatische Lösung zu finden, war auf dem Kongress wie erwarten verlacht worden. Die Menschen glaubten nicht an Diplomatie, wenn sie ihr eigenes Leben in Gefahr sahen. Sie dachten, Drachen wären bloß Tiere, die man in Schach halten konnte und abschoss, wenn sie Probleme machten. Mit der Axt durch den Wald, so sagte man. Ohne Ahnung von Clangebieten, oder -strukturen, von Ansichten und Rechten. Zumal man nicht von den Drachen sprechen konnte, sondern von einem komplexen Baum der Arten und Artverwandtschaften. Aber keiner dachte dran, keiner auf dem Kongress verstand, dass Drachen ebenso intelligente Lebewesen waren wie der Mensch, ja, dass die meisten, wenn nicht sogar alle, die menschliche Sprache zumindest verstehen konnten. In den alten Büchern gab es unzählige Berichte von Verwandlungen in eine menschenähnliche Form, womit sie in der Lage waren zu kommunizieren. Für Nell bestand kein Zweifel daran, dass sich eine Unterhaltung aufbauen ließ. Aber Expeditionen im Gelände, innerhalb einer der Clans waren strengstens verboten. Eigentlich...
Seit sie denken konnte wurden Studien nur an Gezähmten durchgeführt, die vor vielen Jahrhunderten von Drachenjägern gefangen und unschädlich gemacht wurden. Durch gezielte Züchtung guter Eigenschaften konnten so gefügige und treue, aber dennoch starke Nachkommen erzeugt werden, die das Verteidigungsministerium als Spezialwaffe für sich beanspruchte. Nell kannte jeden der heute lebenden zehn Individuen durch ihre intensiven Studien, aber sie entsprachen kaum noch den Drachen, wie sie von den ersten Beobachtern beschrieben wurden. Sie waren in jeder erdenklichen Art „gezähmt". Die Nägel wurden ihnen gezogen, die Zähne abgeschliffen. Bis auf das ausgewählte Individuum mit den besten Eigenschaften waren sie alle kastriert und gechipt, damit sie, falls sie doch mal wider Erwarten ausbrechen sollten, schnell aufgespürt werden konnten. Sie sprachen nicht. Nicht, weil sie es nicht konnten, Nell konnte nach eingehenden Untersuchungen bestätigen, dass sie physiologisch dazu in der Lage wären, aber sie taten es nicht. Genau genommen taten sie immer nur das, was ihnen gesagt wurde, wie lebendige Maschinen, deren Lebenszweck es war, zu Dienen. Nell erfüllte das mit Wut. Drachen waren keine Maschinen, sie waren nicht dazu da, um von den Menschen diszipliniert zu werden. Aber ihr leuchtete ein, dass Gedankengut wie dieses, in der momentanen Situation nicht gern gesehen wurde. Die Gefahr für die Menschen musste gebannt werden.
Und deshalb hatte sie Nummer 76 bei sich. Ein Gezähmter, den sie sich „geborgt" hatte, damit sie nicht ganz allein in den sicheren Tod lief. Denn so sehr sie auch ihren Studien vertraute, seit mehreren Generationen hatte niemand die wilden Clans studiert oder sie auch nur vor Augen bekommen. Man wusste eigentlich so gut wie nichts über die Lage da draußen. Der von ihr ausgefüllte Antrag für sein kurzzeitiges Verschwinden aus dem Labor war auf dem postalischen Weg ins das Verteidigungsministerium. Die Behörden hätten ihn wahrscheinlich sowieso abgelehnt, wenn Nell ihn verschickt hätte bevor sie den Gezähmten auf ihre Reise mitgenommen hatte. Also sei es drum.
Der Gezähmte lief schweigsam hinter ihr. Aber sie hatte kein schlechtes Gefühl. Sie kannte Nummer 76 seit sie angefangen hatte zu studieren. Sie konnte die Daten jedes Individuums auswendig, so auch seine. Er war 103 Jahre alt, wog 110 kg reine Muskelmasse und war etwas über zwei Meter groß. Geschlecht männlich, kastriert, von allgemein ruhigem Temperament.
„Willst du auch etwas trinken?", fragte sie über die Schulter und schüttelte demonstrativ die halbvolle Flasche, aus der sie gerade einen Schluck genommen hatte. Der Drache schüttelte langsam den Kopf und schaute dann wieder in die Ferne einfach an ihr vorbei, wie er es schon die ganze Zeit tat. Logisch, er hatte die Welt hier draußen noch nie gesehen, es musste ihn wahnsinnig beeindrucken, dachte Nell und trank selbst noch einen Schluck. Schweiß sammelte sich auf ihrer Stirn und in ihrem Nacken, obwohl es eigentlich nicht warm war. Aber der Fußmarsch hatte es in sich, die Hügel nahmen nach Norden zu. Noch etwa einen Tagesmarsch und sie würde ein Dorf finden, das sich auf der Karte Bech nannte und sich am Rande eines großen Clangebiets schwarzer Drachen befand. Von da aus hätte Nell die perfekte Position, um erste Forschungen in das Gebiet zu unternehmen und vielleicht sogar den ersten Kontakt aufzunehmen. Wenn es noch existierte, hieß es. Denn beinahe alle Dörfer auf Clangebieten von schwarzen Drachen wurden momentan zerstört, verbrannt, dem Erdboden gleich gemacht.
„Früher hat mein Papa mich immer am Wochenende zum Wandern mitgenommen. Es war gut, um den Kopf frei zu bekommen. Die frische Luft vertreibt die Sorgen und der Waldgeruch ist gut für die Lunge.", begann sie irgendwas belangloses zu erzählen. Natürlich erwartete sie keine Erwiderung, aber es beruhigte sie mit jemanden zu reden. Und sie zweifelte nicht daran, dass Nummer 76 sie verstand. „Seit er gestorben ist, bin ich viel zu selten draußen. Manchmal schaue ich den blauen Himmel und die Wolken durch das Fenster in meinem Büro an und entschließe mich, das zu ändern. Aber sobald ich zuhause bin habe ich es vergessen, es ist dunkel und meine Katze wartet auf ihr Essen." Sie stieß eine Anhöhe hinauf, wo der Weg steil bergan führte. Nach wenigen Meter rang sie schon leicht nach Atem, ihre Kondition war wirklich schrecklich. Dem Drachen schien es dagegen nicht auszumachen, jedenfalls hörte sie ihn nicht ächzen, als er den steigen Weg nahm und er wurde auch nicht langsamer.
„Tatsi. So heißt meine Katze. Ist gerade bei meiner Mutter und wird wahrscheinlich mit Leckerlis und Streicheleinheiten verwöhnt. Ehrlich gesagt, könnte ich das jetzt auch gut vertragen.
Aber die Pflicht geht vor. Es gibt viele Leben zu retten." Sie kam um Luft ringend oben an und wischte sich mit der Hand den Scheiß fort. Und vor ihr offenbarte sich der weitere Weg, der noch weitere Steigungen nehmen würde. Nummer 76 kam ebenfalls oben an und blickte emotionslos nach vorn. Bereit, wie ein Panzer über Höhen und Tiefen weiter zu gehen, und wenn es ans Ende der Welt war. „Du brauchst auch einen Namen. Irgendwas, was griffiger ist, als den Namen den du im Labor hast. Wenn Gefahr droht, kann ich dich nicht bei ‚Nummer 76' rufen.", meinte Nell und blickte ihn an. Er hatte kurz geschorene, schwarze Haare, eine hell-bronzene Haut und über seinem rechten Ohr blinkte der Chip blau unter seiner Haut. Ein kleiner, kaum ein Zentimeter kleiner Metallkorn mit einer Nummer. „Wie wäre dir... Igni? Es ist recht kurz und leicht auszusprechen, perfekt wenn ich dich rufen muss. Wenn wir zurück im Labor sind, werde ich dich natürlich wieder bei deinem offiziellen Namen nennen. Was hältst du davon?", fragte Nell an den Drachen gewandt. Aber er starrte weiter in die Ferne, ohne Worte, ohne das kleinste Zucken eines Muskels in seinem Gesicht. Also holte sie geübt das kleine, handliche Tablet aus der Seitentasche ihrer Hose und klickte auf das Profil, das von seinem Chip übertragen wurde. Vitalwerte normal, Atmung ruhig, Emotion... ausgeglichen. Nell steckte das Tablet wieder weg. „Na immerhin keine Ablehnung.", meinte sie zufrieden mit sich. Die Hände in die Hüfte gestemmt atmete sie noch einfach tief durch, bevor sie weiter ging. Sie hatte noch einen langen Weg vor sich und es war jetzt nicht daran, Zeit zu verlieren.
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Dynastie der Drachen - Die Augen der Beute
FantasyEsa lebt in einem Dorf weit abseits aller Städte, wo die Gefahr durch Drachen zu einer allgegenwärtigen Gefahr geworden ist. Ungeahnt dessen, dass der Kongress für die Sicherheit der Menschen sich in der Hauptstadt versammelt hat, um Alarm zu schlag...