„Das ist schon in Ordnung! Du musst es mir nicht sagen. Du musst mir generell nichts sagen was dir unangenehm ist, okay?" Esa nickte langsam und begann mit den Fingern das Ende ihres unordentlichen Zopfes zu suchen. Nachdem sie das kleine Band an dessen Ende zu fassen bekommen hatte versuchte sie es ungeschickt zu öffnen. Nell sah ihr einen Moment dabei zu wie sie in dem vollkommen verknoteten Bündel nestelte, und aus Frust immer rabiater wurde, dann entschied sie einzugreifen. Vorsichtig schob Nell Esas Hände bei Seite und begann das Wirrwarr ihrer Haare zu befreien, bis sie das Band lösen konnte.
„Bist du ganz allein hier?", fragte Nell in das Schweigen und entwirrte das seidige, braune Haar. Esas presste die Lippen aufeinander. „Nicht so richtig.", murmelte sie flüsterleise und schien sich am liebsten wegzuwünschen. Mit ruhigen, bedächtigen Bewegungen begann Nell das Haar zu kämmen. „Aha... Was heißt das?" Sie versuchte unaufgeregt zu klingen. Esa schien sich dennoch zum verkrampfen, sie bog den Rücken durch und machte sich steif. „Ich... ich weiß nicht...", stammelte sie und Nell hielt inne um ihr erneut beruhigend eine Hand auf die Schulter zu legen. Das Mädchen war ja vollkommen fertig. Nell entschied sich, besser erstmal keine Fragen mehr zu stellen und Esa erstmal zur Ruhe kommen zu lassen. Doch stattdessen hielt es das Mädchen nun nicht mehr auf dem Stein und sie sprang unruhig auf. „Er sucht mich bestimmt schon. Oh bei den Ahnen, wahrscheinlich ist er wütend! Gar nicht auszumalen was er mit mir machen wird, wenn er mich findet und ich mache es mir hier gemütlich. I-ich sollte jetzt zurück gehen!", murmelte Esa da auf einmal beinahe panisch los und machte sich ungeahnt sicheren Schrittes in Richtung Dorf auf. Nell zog die Brauen zusammen. „Wer ist er?", fragte sie und hielt Esa am Arm auf. Auch diese Frage schien Esa zu quälen. Sie schien etwas sagen zu wollen, kam aber nicht mit der Sprache raus. Sie hatte Angst. Nell hätte Esa am liebsten in den Arm genommen und ihr versichert das alles gut war, bis sie sich beruhigt. „Esa, von wem sprichst du? Wer ist er? Dein Vater? Wartet er auf dich?", verdeutlichte Nell noch einmal hartnäckig und wandte Esa zu sich um. Diese rang mit sich, schüttelte dann gequält den Kopf und atmete schwer. Ihr Blick war unruhig, wanderte von einem Punkt zum anderen und blieb nie lange stehen. „Er...", presste Esa hervor. „Zenon..." Sie sprach seinen Namen so leise aus, das Nell am Anfang dachte sich verhört zu haben. „Bitte, lass mich los! Ich muss zurück! Jetzt sofort! Sonst...", sie ließ das Letzte kraftlos fallen. Und dann brach es ganz unverhofft aus ihr heraus. Vor Nells Augen wurde das zierliche Mädchen noch kleiner und zerbrechlicher und begann bitterlich zu weinen. „Oh Ahnen... Bitte lass mich doch zurückgehen! Ich bin schon viel zu lange fort. Er wird so wütend sein...", wimmerte Esa kläglich und sackte dann zusammen. Nell war so sprachlos über diese Reaktion, dass sie nicht wusste was sie tun sollte. Wer oder was konnte Esa so eine schreckliche Angst machen, dass sie so fertig war und hier weinend zusammenbrach?
Und dann fiel es Nell wie Schuppen von den Augen. Oder es bahnte sich ihr jedenfalls eine bittere Vermutung an. Da waren zwei Drachen in dem Dorf gewesen. Und Esa. Da sich rote Drachen in all den Aufzeichnungen nie sonderlich für Menschen interessiert hatten und dieses Individuum wohl nur zufällig in den Ruinen war, musste dieser Zenon also der schwarze Drache sein... Dieses besonders große Exemplar eines schwarzen Drachen! Und Esa weinte so bitterlich. Nell konnte nur erahnen was sie bisher durchgemacht hatte und fühlte sich schrecklich bei der Erkenntnis, das sie nicht viel tun konnte. Sie sah mitfühlend auf das Mädchen hinab. Dieses arme Ding... Ob er sie bereits beansprucht hatte? Bezeichnend blickte Nell zu dem Dorf hoch. Die Kampfgeräusche waren vergangen, eine schaurige Stille war an dessen Stelle getreten in denen nur der Wind und Esas klägliches Wimmern zu hören war. Nell bekam eine Gänsehaut. Wenn Esa wirklich bereits von einem Drachen beansprucht war konnte Nell nichts machen. Im Gegenteil. Eigentlich sollte sie dieses Mädchen den Vorschriften nach hier zurücklassen, um keine Aggressionen zu provozieren bei denen Nell mit absoluter Sicherheit den kürzeren ziehen würde. Aber wie konnte sie das tun? Wie sollte sie das übers Herz bringen? Wie sollte sie sich nun umdrehen und weggehen und das Mädchen ihrem Schicksal überlassen?
Ratlos blieb Nell wie angewurzelt stehen. Wusste weder hierhin noch dorthin und hörte die Suppe im Hintergrund aufkochen. Ihr war eiskalt, als sie sich schließlich zwang sich umzudrehen und nach dem Essen zu sehen. Im Kopf ging sie all die Möglichkeiten durch, die sie jetzt hatte. Und das waren nicht viele. Das Mädchen zurücklassen und so schnell wie möglich Abstand gewinnen. Oder hier warten, bis der Drache auftauchte und sich seine Beute wieder holte und möglicherweise riskieren, dass er Nell zu Asche verbrannte. Oder versuchen das Mädchen zu retten, mit ihr fortzugehen und das Bergungsteam anfordern. Aber letzteres wäre wohl die dümmste aller Ideen. Die Wahrscheinlichkeit das der Drache schneller als der Hubschrauber sein würde, war zu hoch.
Nell füllte abwesend eine Metallschale mit Suppe und legte sie in Esas Richtung. „Hier, Iss etwas. Es löst zwar die Probleme nicht, aber immerhin wärmt es den Magen. So hätte es jedenfalls meine Oma gesagt." Esa schniefte noch ein paar Mal, schien abzuwägen und kam dann doch zum Feuer. Mit tief gesenktem Blick setzte sie sich zu Nell und nahm die Schüssel entgegen. Danach kramte Nell erneut in ihrer Tasche und holte einen schlichten, schmalen Kasten hervor. Auf ihrem Schoß öffnete sie den Kasten und zog eine silber schimmernde 9mm-Pistole hervor, die sie wie im Training geübt mit den Betäubungspfeilen lud. Betäubungsmittel, das reichte um einen Drachen für eine Stunde schlafen zu legen... und einen Menschen innerhalb weniger Sekunden zu töten. Das war das Risiko. Aber das hier war auch die einzige Chance, die sie hatte, wenn sie das Mädchen nicht zurücklassen wollte. Denn so sehr sie die Sitten auch verstand, die die Drachen pflegten, und so viel Takt sie dafür aufbringen wollte, Nell konnte dieses Mädchen einfach nicht blind ihrem Schicksal überlassen. Was erwartete sich der Drache wenn er sich so ein zierliches Menschenmädchen hernahm? Doch wohl nicht ernsthaft, dass sie lange an seiner Seite verweilen würde!
Und es geschah das Erwartete. Kaum hatte Esa aufgegessen und sich schüchtern bedankt, da erklang das Brüllen des Drachen und schwer, sodass die Erde erzitterte, landete er mit geöffneten Schwingen unweit von den beiden Frauen. Nell schluckte hart, versuchte ernst und unbeeindruckt auszusehen, aber in ihrem Magen begann zu kribbeln vor Angst. Von nahem wurde ihr klar, das er sehr viel größer war, als sie gedacht hatte. Und nur ein Verrückter würde bei diesem Anblick ruhig bleiben.
DU LIEST GERADE
Dynastie der Drachen - Die Augen der Beute
FantasiEsa lebt in einem Dorf weit abseits aller Städte, wo die Gefahr durch Drachen zu einer allgegenwärtigen Gefahr geworden ist. Ungeahnt dessen, dass der Kongress für die Sicherheit der Menschen sich in der Hauptstadt versammelt hat, um Alarm zu schlag...