Auf den Schreck musste Nell sich erstmal setzen. „Hast du das gemacht?", fragte sie unnötigerweise an Igni gewandt und deutete mit der Hand auf das Feuer. Natürlich war er es gewesen, woher sollte es denn sonst kommen? Nell massierte sich die Schläfen. Das war nun wirklich eine Überraschung. Und was für eine. Ein potenziell gefährliches Individuum lief seit mehr als 24 Stunden neben ihr und sie hatte nichts bemerkt. Nein, besser noch. Sie hatte ihn seit Jahren studiert, jede seiner Bewegungen aufgezeichnet und meinte diesen Drachen besser zu kennen als ihren eigenen Körper. Und nun hatte er Feuer gespien, eine Fähigkeit von der sie nicht dachte das er sie noch hatte und bewies ihr beinahe spielend, dass sie doch nicht alles wusste. Himmel, wie naiv sie doch war. Sie konnte ein müdes, verzweifeltes Lachen nicht zurückhalten.
„Mach das nie wieder, verstanden? Das ist sehr gefährlich!", sagte warnend zu ihm. Wenn sie wieder zurück war, musste sie das unbedingt melden, damit Igni seine Operation bekam. Sonst würde er viel zu gefährlich für alle Beteiligten sein.Nachdem Nell sich halbwegs gefangen hatte zog sie eine Essensration aus ihrem Rucksack und legte die silberne Packung vorsichtig in die Nähe des Feuers. Es sollte nur etwas aufwärmen, Wildgulasch mit Nudel aß sich kalt einfach nicht besonders gut, was nicht heißen sollte, dass sie es im Ernstfall nicht tun würde. Und während das Menü langsam warm wurde, Igni hatte sich derweilen auch niedergelassen, glitt ihres Hand wieder über das Buch. Sie nahm es und legte er sich auf den Schoß. „Wusstest du, dass alles, was wir über die Drachen wissen durch diesen Mann begründet ist? Balrim Zinn. Er war der erste Pionier der in Zeiten schlimmster Not seine Beobachtungen auf seinen Reisen durch das Land niederschrieb. Er schreibt auch, das es eine Zeit vor der Drachen gab, aber auch, dass die so weit zurückliegt, dass sich niemand mehr daran erinnert. Für ihn waren es vier Generationen, seit dem Auftauchen der ersten Drachen. Da das Leben eines Drachen jedoch um einiges Länger ist, hat er noch die ersten Drachen erlebt. Und sie müssen schrecklich gewesen sein, so viel wird aus seinen Aufzeichnungen deutlich. Auch wenn er wahrscheinlich etwas übertrieben hat.", erzählte Nell und schlug die erste Seite des Buches auf. Wie oft hatte sie die ersten Worte schon gelesen. Wie oft hatte sie sie schon zitiert und besprochen. Es war die Essence dessen, was sie dazu brachte, Drachengeschichte zu studieren. Und sie las die ersten Zeilen vor: „Es waren wilde Bestien, dämonische Monster so groß wie schneebedeckte Berge, und so laut wie Donner. Ihre Schritte erschütterten die Erde und jedes Gewürm hätte sich am liebsten vor ihnen in Staub aufgelöst. Selbst das gefährlichste Raubtier fürchtete ihren Gestank, und floh noch lange vor ihrer Ankunft. Drachen. Die Uralten, deren Blut noch nicht durch das Schänden jungfräulich Menschenfrauen verwässert zu einem Hybrid gleichsam schrecklich und ekelerregend mutierte. Die ersten Bestien die die Wälder mit nur einem Atemzug in eine graue Wüste verwandelten aus deren Staub die schwarze Leichen der Bäume wie Geister herausragen, die Flüsse, Seen und Meere vertrocknen ließen und es sich zum Ziel machte der Welt ein Ende zu bereiten. Über diese Drachen werde ich schreiben, damit alle kommenden Generationen, sofern sie noch existieren werden, wissen, was diese Dämonen sind die unsere Welt heimsuchen, und ihren Nutzen daraus ziehen." Nell sah zu Igni, der seinerseits das Feuer betrachtete. Sie wusste nicht, ob er zugehört hatte, oder ob es ihn überhaupt interessierte, was sie hier sagte. Aber irgendwie schien er stiller als sonst zu sein, als würde er tatsächlich lauschen.
Da ploppte die Packung plötzlich in eine runde Form und erschreckte Nell sodass sie heftig zusammen fuhr. Es war viel zu heiß geworden, der Dampf drang aus allen Löchern in der Packung und sie sah aus, als würde sie gleich explodieren. Eilig nahm Nell einen Stock und schob die Packung vom Feuer weg. Mit dem Buch wedelte sie den Dampf fort und versuchte das Essen zu kühlen, denn in dem Zustand war es viel zu heiß zum Anfassen. Als sie zu Igni sah, bemerkte sie das auch er sich erschrocken haben musste, denn seine Muskeln waren angespannt und seine zuvor ruhende Haltung war nur hockend, bereit, jeden Moment aufzuspringen. Nell schluckte. „Alles gut, beruhig dich, Igni. Das Essen ist nur zu heiß geworden. Ich schätze, die Balrims Tagebücher geben keine besonders gute Abendlektüre für eine Feldexpedition ab, wenn wir beide ruhig schlafen wollen.", meinte Nell entschuldigend. Igni stieß den Atem aus und entspannte sich wieder. Sein Blick glitt wieder zum Feuer. Nell zog die Brauen nachdenklich zusammen. „Ich dachte nur, dass es vielleicht gut wäre, wenn ich dir das erzähle. Du hast das wahrscheinlich alles noch nie gehört. Wer soll es dir auch sagen, die Sicherheitskräfte vom Ministerium? Das Versorgungspersonal? Nein, die sicher nicht.
Und weder deine Mutter noch deinen Vater hast du je kennengelernt. Sie alle haben dich stets nur wie eine Waffe behandelt. Aber das bist du nicht. Du bist ein Drache, Igni. Und ich finde, du solltest wissen was das bedeutet. Vielleicht... ist das reine Zeitverschwendung, aber ich möchte dir erzählen was Drachen sind.", teilte Nell ihre Gedanken laut und sah wieder auf. Und tatsächlich erwiderte der Drache ihren Blick. Es war unmöglich darin zu lesen, wie oft hatte sie das schon versucht, Drachen zeigten ihre Emotionen selten mit Gesichtsausdrücken. Aber sie meinte ein schwaches Nicken zu erkennen. Ein kleines Zugeständnis das es keine Zeitverschwendung sein würde, dass er wirklich zuhörte, ihren Worten lauschte und verstand wovon sie sprach. Nell begann zu lächeln. Allein diese kleine Geste löste eine heftige Freude in ihr aus, die sie in allem bestätigte, was sie tat und dachte und auch darin, was sie hier überhaupt vorhatte.Sie fischte sich zufrieden Messer und Gabel aus ihren Rucksack und begann die noch immer viel zu heiße Packung mit spitzen Fingern zu öffnen. Vorsichtig teilte sie die Portion auf, füllte sich etwas in eine Blechschale und hielt Igni dann den Rest in der Packung hin. Er nahm es kommentarlos entgegen und schlang den Inhalt im nächsten Moment schon ohne Besteck, sondern nur mit den Fingern schiebend herunter. Igni war fertig, bevor Nell überhaupt ihre erste Nudel zu Ende gekaut hatte. Er war wahrscheinlich nicht mal im Ansatz gesättigt, aber so sollte es ja auch gar nicht sein. Für den einen möglichen Angriff musste er schnell und beweglich bleiben, außerdem, so hatte es Nell seit dem Beginn ihres Studiums gelernt, waren satte Drachen genauso gefährlich wie ausgehungerte. Es hatte also alles seine Richtigkeit, die Igni auch nicht zu hinterfragen schien. Nell schielte auf das Tablet. Alle Werte waren gut, der Herzschlag hatte sich wieder beruhigt und lag jetzt auf einer Frequenz von 53.
Nell aß zuende und wusch das Geschirr im Bach ab. Irgendwo in der Ferne stimmten Wölfe das Heulen an, aber Nell hatte keine Angst. Das schlimmste Raubtier saß am Feuer ihres Lagers und witterte in Windrichtung. Die Brise kam aus Norden, aus Richtung des Clans. Ob Igni ihn wahrnahm?
Gähnend kam Nell zurück. „Ich gehe jetzt schlafen, morgen müssen wir früh weitergehen, wenn wir unser Tagesziel erreichen wollen. Wir haben noch ein anstrengendes Stück vor uns, daher wir brauchen unsere Kräfte.", verkündete sie müde. Igni sah kurz auf zum Zeichen, dass er verstanden hatte. „Gut, dann... wünsche ich dir eine ruhige Nacht." Nell hätte sich kurz darauf für ihre Worte auf die Zunge beißen können. Warum sagte sie das? Igni war kein Kollege, derlei Verhalten gegenüber eines Drachen war höchst unprofessionell. Einen Drachen körperlich und auch emotional immer auf Abstand zu halten, war von höchster Wichtigkeit. Es waren nunmal keine Menschen, und das war Nell eigentlich klar. Deshalb verschwand sie nun kopfschüttelnd im Zelt und zog den Reißverschluss zu.
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Dynastie der Drachen - Die Augen der Beute
FantasyEsa lebt in einem Dorf weit abseits aller Städte, wo die Gefahr durch Drachen zu einer allgegenwärtigen Gefahr geworden ist. Ungeahnt dessen, dass der Kongress für die Sicherheit der Menschen sich in der Hauptstadt versammelt hat, um Alarm zu schlag...