- Kapitel 22 - Kräftemessen

4 2 0
                                    

Nell atmete tief durch, so es eben bei der Anstrengung ging. Oder war es der Rucksack, der nun plötzlich doppelt so viel zu wiegen schien? Konnte sie das Gewicht des Fotos überhaupt merken? Wog es mehr als andere Fotos? Sie wusste es nicht. Nur, das auf einmal alles etwas trüber geworden war, als hätte die Welt einen Teil ihrer Farbe verloren. Das war schon einmal so gewesen. Die ersten Wochen danach. Alles war trüb, dumpf, traurig und irgendwie geschmacklos. Nell war es wie ein schwerer Schleier vorgekommen, vor dem weder ihr Freund, noch ihre Eltern sie bewahren konnten. Die Gefühle hatten sie einfach überrollt, sie verbrannt und zu einer weichen, wachsartigen Hülle werden lassen. Allein bei der Erinnerung daran schauderte es sie, wie hilflos sie dagegen war. Und unruhige Angst machte sich in ihrer Brust breit, dass es wieder passieren könnte. Aber jetzt und hier, bei der Arbeit?

Und die Trübe nahm immer weiter zu, begann in ihren Augen zu brennen und machte alles verschwommen. Als sie dennoch stur weitergehen wollte, hielt Igni sie plötzlich am Arm zurück. Sein Griff war leicht und warm, aber Nell reagierte heftig. In ihr wallte mit einem Mal eine Wut hoch, die sich mit der Angst in ihrer Brust vermischte und etwas erschuf was sie so eigentlich nicht bei sich kannte. Sie riss ihren Arm los und wandte sich heftig um: „Ich will nicht darüber reden! Verstehst du das nicht? Das Foto ist Privatsache, das geht dich nichts an! Also lass mich in Ruhe! Wenn ich noch ein verdammtes Wort darüber von dir höre, dann mach ich diese Mission allein und schick dich dahin wo du hingehörst. Es war mir sowieso lieber als du noch nichts gesagt hast!" Es klang zu scharf, richtig böse. Dabei konnte Igni eigentlich am wenigsten für die Probleme in ihrem Privatleben, die sie nun seit mehr als einem halben Jahr mit sich rumtrug und von sie eigentlich dachte, sie mittlerweile bewältigt zu haben. Igni reagierte nicht auf ihren Tonfall. Oder vielleicht tat er das ja schon, aber sie sah es ihm von außen nicht an... Jedenfalls schüttelte er scheinbar ruhig den Kopf. „Feuer", meinte er schlicht und setzte Nell erstmal ein perplexes Fragezeichen ins Gesicht. Feuer? Sie hatte ja mit allem gerechnet wie er antwortete, sein Schweigen wäre ihr sogar am liebsten gewesen, aber das? Er bemerkte ihren verständnislosen Blick und zeigte den Berg hinauf. Dorthin, wo sie eigentlich das Dorf erreichen wollten. Es war von ihrer Position noch nicht zu sehen. Aber was dagegen zu sehen war, waren dicke dunkle Rauchschwaden die irgendwo hinter dem Gipfel aufstiegen und die ganze Umgebung in einen dichten rußigen Nebel hüllte. „Das Dorf...", hauchte Nell krächzend als sie nun doch zu Verstehen begann. Wieder brannte der Nebel in ihren Augen, sodass sie angestrengt blinzeln musste. „Es brennt.", fügte Igni knapp hinzu blähte kurz die Nasenflügel und verzog dann tatsächlich den Mund, als hätte er einen schlechten Geschmack auf der Zunge. „Häuser, Felder, Tiere,... Menschen. Sie brennen." Und nun konnte Nell den Rauch auch riechen. Ein beißender Gestank der ihren Hals rau werden ließ und den sie eigentlich schon zuvor hätte bemerken müssen. Sie musste husten.
„Wir müssen zurück.", meinte Igni mit schräg gelegtem Kopf. Aber Nell schüttelte ihren verneinend. „Kommt nicht in Frage, unser Zeitplan lässt keine Verzögerungen zu. Außerdem müssen wir versuchen den Leuten im Dorf zu helfen! Wir können sie doch nicht einfach da oben verbrennen lassen.", erwiderte Nell streng und wollte tatsächlich trotz Rauch weiter nach oben gehen. Igni biss die Zähne zusammen und sein Blick verfinsterte sich. In wenigen Schritten hatte er Nell eingeholt und sich vor sie gestellt. Da war es wieder, diese Angst, die sie auch schon am Fluss gespürt hatte. Sie wich automatisch etwas zurück. „Nell...", sprach er ihren Namen zum ersten Mal aus und der Klang mit dieser tiefen Stimme ging ihr durch jeden Knochen. „Ich rieche Drachen. Ich rieche Draakral! Da oben. Sie töten die Menschen. Wenn du hoch gehst, dann töten sie auch dich. Es ist gefährlich! Verstehst du das nicht?" Er klang drängend, eindringlich. Sein letzter Satz wie ein Echo ihrer Worte, die sie ihm noch vorhin entgegen geschleudert hatte. Und es war ihr beinahe wie bittere Ironie, dass er sie bezichtige, ihn nicht zu verstehen. „Wir suchen doch Drachen, Igni! Wenn sie dort sind, müssen wir auch hoch, um mit ihnen zu reden bevor es zu spät ist. Keine Angst, ich habe alles unter Kontrolle.", versuchte Nell es mit ihrer üblichen strengen Tonlage und wollte an Igni vorbei gehen. Er begann zu knurren. „Kontrolle...", spuckte er das Wort förmlich aus.

Und bevor Nell überhaupt reagieren konnte packte Igni sie um die Mitte und warf sie sich wie ein Sack Mehl über die Schulter, als würde sie nichts wiegen. Wie ein Blasebalg wurde alle Luft aus Nells Lunge gedrückt, so kräftig war die Bewegung. Dann begann er im eiligen Tempo bergab zu laufen. Nell schnappte nach Luft und versuchte sie frei zu winden, aber sein Griff war stark und unnachgiebig. „Igni, lass mich sofort runter!", keuchte sie atemlos. Er hörte nicht. Mit langen Schritten machte er Sätze, die ein Mensch nicht in der Lage war zu überwinden, ohne sich die Beine zu brechen. Und dabei war er so schnell, machte all den mühsamen Anstieg rückgängig, den Nell noch immer in den Muskeln fühlte. Sie hätte heulen können. Stattdessen hieb sie mittlerweile rasend vor Wut auf seine Schulter und seinen Rücken ein. „Sag mal, gehts eigentlich noch?! Ich sagte, lass mich los! Du sollst mich runter lassen, du barbarische Bestie! Du... blöder... beschränkter... Drache! IGNI!", zeterte sie weiter und zappelte so wild sie nur konnte.

Als der Berg langsam auflachte, blieb er schließlich stehen und legte sie unsanft auf den Waldboden ab. Erneut keuchte Nell angestrengt und blieb kurz liegen, bis der Schmerz auf ihrer Seite abgeklungen war. Dann rappelte sie sich langsam auf und sah zu Igni der gerade zurücksah, als hätte sie etwas verfolgt. Mit fahrigen Fingern griff sie nach ihrem Rucksack, und öffnete ihn eilig. „So, jetzt reicht es mir! Sowas kann ich nicht zulassen.", sagte sie und griff nach dem Gerät, nach dem sie ganz unten in der Tasche suchte. Es war schlicht, ein simpler Metallstift mit einer Kuppe aus undurchsichtigem Plastik. Als sie die Kappe mit Kraft abzog kam darunter ein flacher runder blauer Knopf zum Vorschein. „Du hast wohl vergessen, wer du bist und was du hier machst! Dann will ich dich daran erinnern, Individuum 76.", sagte sie wütend und sah, wie er seinen Blick auf sie richtete. „Das hier, ist der Notausschalter für deinen Chip! Er ist gemacht, falls eines der Individuen Amok läuft und sich entgegen der Regeln verhält. Wenn ich ihn drückte, löst der Chip einen Stromschlag aus der dein Gehirn erfasst und dich innerhalb von nicht mal einer Sekunde tötet.
Du hast dich gerade gegen die Regeln gestellt, indem du dich meiner wiederholten Aufforderung widersetzt hast, mich sofort loszulassen. Du hast selbstständig und ohne meine Zusage gehandelt, während deine Aufgabe lediglich lautet, für meine Sicherheit zu sorgen und das Lager zu bereiten. Wenn ich also in der Dorf will, um mit den Drachen zu kommunizieren, dann ist es nicht deine Befugnis, das zu hinterfragen! Nun sind die Menschen in dem Dorf dem Tod geweiht, sie müssen sterben, weil ich keine Chance habe die Drachen zu befrieden und die Menschen zu retten. Das ist allein deine Schuld! Und es ist Grund genug jetzt diesen Knopf zu drücken."

Dynastie der Drachen - Die Augen der BeuteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt