Es vergingen einige Momente, Esa konnte nicht sagen wie lang oder was genau in der Zeit passierte. Es fühlte sich schnell und gleichzeitig so lang an, wie sie da hockte, im seichten eisigen Wasser. Da berührte eine Hand sie am Arm, legte sich dann ohne Nachdruck um ihr Handgelenk. Die Hand war warm und sanft, obwohl sie im ersten Augenblick davor zurückschrecken wollte, blieb sie doch starr. „Komm", sagte die raue, aber samtige Stimme des Fremden. „Komm mit mir. Ich bringe dich fort von hier." Vorsichtige Erleichterung durchströmte sie. Wie begierig nickte sie, ließ sich aus ihrer Position langsam aufrichten. Alles ohne Druck, ohne Zwang, der Fremde zog sie nicht, sie... fühlte sich von ihm gestützt. Vielleicht tat er das auch, immerhin schwankte sie humpelnd, als sie aufstand. Und sie ließ sich von ihm leiten, folgte ihm, als er sich langsam in Bewegung setzte und flussaufwärts ging.
Sie hinterfragte sie, ob es in Ordnung war, was sie hier tat. Ob es Mutter gefallen hätte? Sie wusste es nicht. Irgendwie wusste sie gar nichts mehr, außer das die Handfläche die da ihre Haut berührte sich unglaublich warm und tröstlich anfühlte. Sie kannte nicht mal seinen Namen, geschweige denn, wo er sie hinbrachte. Aber es war ihr egal, für diesen Moment war es ihr egal, Hauptsache da war jemand der sie wegbrachte. Weg von Philos, weg von Mutter, weg von dem Dorf. Der Fremde war ihr Retter. Er musste keinen Namen haben.
Und während sie so gingen, bei jedem zweiten Schritt zuckte Esa zusammen vor Schmerz, konnte sie endlich durchatmen. Als wäre eine Last von tausend Steinen von ihren Schultern genommen. Und sie hörte wieder Vögel und Wind und Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Schließlich blieb er irgendwann stehen, hielt einen Atemzug inne, als würde er lauschen und drehte sich dann zu ihr um. „Du hast keine Angst mehr?", fragte er verwundert klingend. Esa schüttelte kurz der Kopf. Es schien ihn stutzig zu machen, denn er sagte daraufhin eine Weile nichts. Dann strich er mit der Hand leicht über ihre verletzte Schulter. „Sie haben dich verletzt.", stellte er nun doch etwas erbost fest, doch wieder schüttelte Esa den Kopf. „Nein, ich bin..." Die Worte fühlten sich schwer in ihrem Hals an und es entkam ihn nur ein tiefer Seufzer. Es war noch zu früh, um es auszusprechen, um über das zu reden, was passiert war. Sie hatte gerade keine Kraft dafür. „Ich muss mich waschen.", sagte sie also das einzige, was in ihrem Kopf noch irgendeinen Sinn machte. Denn sie fühlte sich noch immer schmutzig. Gebraucht, schmutzig, unrein. „Dann wasch dich.", erwiderte der Fremde und ließ ihren Arm los. Doch das ließ Esa nicht zu. Sogleich fasste sie nach ihm, als könnte er sich jeden Moment in Luft auflösen. „Bleibst du bei mir? Du gehst nicht weg, ja? Du lässt mich nicht allein?", fragte sie wie ein kleines Kind voller Angst. Der Fremde war jetzt der einzige an dem sie sich orientierten konnte. Ohne ihn war sie allem ausgeliefert. Der Fremde schnaubte wiederwillig aber umfasste dann ihre ängstlich um seinen Arm gekrallte Hand. „Ich bleibe. Also wasch dich jetzt.", sagte er knapp und löste ihren Griff einfach so wie eine Insekt von seiner Haut. Esa schluckte und nickte vertrauensvoll.
Langsam ging sie ins Wasser bis es ihr bis zu den Oberschenkeln reichte. Sie fröstelte und wusch ihre Arme, ihr Gesicht und tauchte schließlich mit dem ganzen Kopf unter. Tropfend nass kam sie wieder hoch und beschloss dann, dass das Oberkleid sie zu sehr einengte. Sie öffnete den Gürtel und die Fibeln und legte das nun schwere, triefende Kleidungsstück ab. Viel besser! Nur noch im Unterkleid wusch sich noch einmal, und noch einmal. Bis sie sich wenigstens ein bisschen besser fühlte.
Zitternd und bibbernd, aber innerlich beruhigt trat sie wieder an das Ufer. „Okay, wir können weitergehen.", sagte sie in der Hoffnung, das der Fremde in der Nähe gewartet hatte und sie nun hörte. Aber es kam keine Antwort. Die Arme um sich geschlungen wartete sie auf ein Geräusch. Auf seine Schritte oder seine Stimme, die sich zu sich rief. Stille. Ein übles Gefühl beschlich Esa, aber sie wollte dem nicht nachgeben. „Ich... bin jetzt fertig mit Waschen. Wir können weiter.", rief sie noch einmal lauter. Doch es verließ sie die wenige, neu gewonnene Kraft. Alles wurde wieder ein bisschen kälter, um sie herum. Sie senkte den Kopf. Sie konnte nicht mehr. Frierend und verloren stand sie mal wieder allein da. Nur das sie diesmal nicht mal mehr genau wusste wo sie war. Südlich vom Dorf, irgendwo flussaufwärts. Aber zurückgehen war keine Option. Und vorwärts? Wer weiß was da kam? Drachen? Wilde Tiere? Böse Menschen? Sie traute sich nicht. Esa schaffte es weder vor noch zurück zu gehen. Sie war wie fest gewachsen.
„Wo ist deine Kleidung?", fragte da auf einmal eine vertraute Stimme und Esa wäre beinahe wieder in Tränen ausgebrochen. Mit rasendem Herzen rannte sie auf den Fremden zu, orientierte sie an seiner Stimme. Sie erinnerte sich, als sie als Kind mal im Wald gespielt hatte und auf Bäume geklettert war. Sie war gut im Klettern gewesen hatte sich beinahe besser orientiert wie ein sehender, denn es war wie ein Muster, das man sich merken konnte. Jeder Baum hatte sein eigenes Muster aus Ästen und Zweigen, ganz individuell. Doch eines Tages brach einer der Zweige und Esa verlor den Halt. Sie hatte sich noch nie so hilflos gefühlt als sie da, am Stamm des Baumes hängend, nach Halt und Orientierung suchte. Sie wusste nicht, warum diese Erinnerung gerade in dem Moment, als sie die Arme fest um den Körper des Fremden schloss wieder ihren Kopf erfüllte. Sie hatte seit Jahren nicht mehr daran gedacht, hatte es vielleicht sogar vergessen. Aber just hier, war die Erinnerung wieder da. Der Fremde gab ihr jetzt Halt und sie klammerte sich an ihn, als würde ihr Überleben davon abhängen. Und wenn sie es zuvor noch nicht bemerkt hatte, konnte sie nun spüren wie kräftig und groß er war. Ihr Kopf reichte ihm kaum bis zur Schulter, unter seinem Hemd und dem Pelzüberhang spürte sie seine Muskeln. Und er war warm. Herrlich und tröstlich warm.
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Dynastie der Drachen - Die Augen der Beute
FantasíaEsa lebt in einem Dorf weit abseits aller Städte, wo die Gefahr durch Drachen zu einer allgegenwärtigen Gefahr geworden ist. Ungeahnt dessen, dass der Kongress für die Sicherheit der Menschen sich in der Hauptstadt versammelt hat, um Alarm zu schlag...