Nell hatte mit dem Mädchen eilig das Dorf verlassen, solange die Drachen noch abgelenkt waren. So sehr sie auch am liebsten Mäuschen gespielt hätte und den beiden Giganten beim Kämpfen zugesehen hätte, aber die Gefahr aus Versehen zwischen die Fronten zu geraten war viel zu hoch. Und wenn das Mädchen wohlmöglich eine letzte Überlebende aus dem Dorf war, stand ihre Sicherheit ohnehin vor jedem Forschungsinteresse. So duckten sie sich zwischen den Mauer- und Schuttresten hindurch und liefen über die Wiesen aus Asche.
Am Rande der Böschung blieben sie schließlich stehen, das Brüllen der Drachen war noch immer im Hintergrund zu hören und manchmal konnte man rote und schwarze Flügel oder Hälse aufragen sehen.
„Du musst jetzt keine Angst mehr haben. Ich bin Dr. Nell Martin, Spezialistin für die Erforschung und Lösung von Drachenangelegenheiten und qualifizierte Ersthelferin bei Drachenangriffen. Es ist nun alles unter Kontrolle, alles wird gut. Wenn du willst kann ich ein Bergungsteam anrufen, das dich in die Stadt bringt. Bist du verletzt? Verbrennungen oder Brüche?", fragte Nell routiniert und schwang schon den Rucksack von ihrem Rücken, um das Erste Hilfe Set herauszuholen. Das Mädchen war staubig und dreckig, das Kleid rutschte ihr immer wieder von einer Schulter und war ihr offensichtlich zu groß. Nell wusste, dass es durchaus große Unterschiede in Infrastruktur und alltäglicher Versorgung gab und das die meisten Menschen auf den Dörfern ein recht einfaches, bäuerliches Leben führten, deshalb wunderte sie der Anblick des Mädchens nicht.Es schüttelte zurückhaltend den Kopf, hielt den Blick am Boden, während sie nervös an dem verschlissenen Schößchen des Kleides rumnestelte. Dünn und elend sah sie aus, dass es Nell das Herz zerriss. Was hatte dieses arme Ding schon erleben müssen? „Willst du mir denn verraten wie du heißt?", fragte Nell vorsichtig. „Esa" Die Antwort kam schneller als erwartet. „Geht es dir gut, Esa? Tut dir irgendwas weh?", fragte Nell und erntete ein Schulterzucken. Sie betrachtete das Mädchen kurz nachdenklich, dann deutete sie den Hang hinab. „Nicht weit von hier ist ein Fluss. Wollen wir dahingehen, damit du dich sauber machen kannst? Ich habe auch noch was zu Essen dabei, wenn du hungrig bist.", bot Nell an und nun blickte Esa auf. Und der Ausdruck in ihrem Gesicht war verärgert. „Nein, ich muss meinen Vater finden!", sagte sie fest entschlossen. „Na klar! Das wirst du. Wenn du willst können wir ihn auch gemeinsam suchen gehen und du erzählst mir ein bisschen von dir. Aber nach einen Bad und etwas zu Essen wirst du dich sicher erstmal viel besser fühlen. Wir brauchen bestimmt nicht lang. Komm!", versuchte Nell so behutsam wie möglich und bot Esa ihre Hand an. Sie versuchte nicht zu sehr nach dem Mitleid zu klingen, was Nell empfand. Dieses Mädchen war eindeutig traumatisiert und suchte nun nach Familienmitgliedern, die wahrscheinlich bereits tot waren. Am liebsten hätte sie sofort den Bergungsdienst kontaktiert um Esa hier wegzubringen, eingerollt in eine Decke, auf dem direkten Weg in ein Krankenhaus. Aber sie wusste, dass das bei traumatisierten Menschen oft nicht das erste Mittel war und man sie zunächst vorsichtig aus der Situation herausholen musste.
Als Esa auch nach einigen Sekunden nicht auf Nells Hand reagiert hatte ließ sie sie sinken. „Du kannst mir vertrauen, Esa! Ich will dir nichts Schlimmes. Nur ein bisschen Essen und Wasser, danach kommen wir hierher zurück und suchen nach deinem Vater.", beteuerte Nell noch einmal und ganz langsam, beinahe wie in Zeitlupe biss sich das Mädchen auf die Unterlippen und nickte unsicher. Nell lächelte erleichtert und ergriff nun Esas Hand. Sie waren kalt und klamm.
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Unten am Fluss, denn der Abstieg ging um einiges leichter und schneller ließ Nell Esa los und legte den Rucksack ab. Sie hatte inzwischen gemerkt das das Mädchen anscheinend schlecht oder überhaupt nicht sehen konnte, denn ihre Schritte waren unsicher und ihre Hand tastete stets nach höheren Felsen und Gestrüpp an dem sie sich festhalten konnte. Ob es eine angeborene Behinderung war oder durch die Helligkeit der Drachenflammen gekommen war, konnte Nell noch nicht sagen.
Sie bereitete ein kleines Lager, legte Gaskocher und einen Topf heraus und holte dann einen Schwamm und eine Bürste. „Ich sollte zurück.", würgte Esa hervor und klang elend. Sie zitterte nun leicht, sah bleich und zusammengezogen aus. Nell stand auf und legte Esa beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Das werden wir gleich. Jetzt setzt dich erstmal und ich besorge eine Schüssel mit Wasser mit dem du dich Waschen kannst. Du hast hier bei mir nichts zu befürchten!" Aber Esa blieb unruhig, wandte bei jedem lauteren Geräusch den Kopf, schien irgendwas zu erwarten... oder zu befürchten. Nell holte ihr vom Fluss eine Schüssel mit Wasser, legte den Schwamm hinein und wies Esa dann an sich zu waschen. Sie tat es zögerlich, während Nell den Gaskocher erhitzte und eine Hühnersuppe aus seiner Packung befreite. Nachdenklich betrachtete sie das Mädchen einen Moment, nachdem sie sich das Gesicht gewaschen hatte konnte Nell nun sehen, das sie wahrscheinlich doch älter war, als sie auf den ersten Blick schien. Esa war klein und mager im Vergleich zu ihr, was sowohl an Esas jugendlichen Alter, als auch an einer mangelhaften Ernährung lag, mutmaßte Nell für sich.
„Wie alt bist?", fragte Nell unverblümt und rührte der Suppe um. „Siebzehn", antwortete Esa und bestätigte Nells Theorie. Sie war wegen Mangelernährung definitiv noch in ihrer körperlichen Entwicklung zurück. „Und du?", entgegnete sie und brachte Nell zum Schmunzeln. Wann hatte jemand sie zuletzt ganz unvoreingenommen nach ihrem Alter gefragt? Allein der Gedanke daran stach Nell in der Brust. „Einunddreißig.", antwortete sie und sah ein überraschte O auf Esas Gesicht. Sie errötete. „Ich habe dich anhand deiner Stimme jünger geschätzt.", meinte sie verlegen und streifte sich das Oberkleid ab, um sich die Arme zu waschen. Blaue Flecke leuchteten auf der hellen Haut. „Kommst du aus dem Dorf da oben? Und weißt du, ob es noch mehr Überlebende gibt?", fragte Nell nachdem ihr Lächeln erstorben war. „Nein, ich bin hergekommen, um nach meinem Vater zu suchen. Eigentlich komme ich aus...", sie stockte unerwartet, hielt auch in ihrer Bewegung inne und irgendwas schien ihr unwohl zu sein. Nell tat es sofort leid sie so direkt gefragt zu haben, und warf sich selbst vor wie unsensibel man sein musste, um ein verstörtes Mädchen sowas zu fragen. Immerhin wusste Nell nicht, was sie alles durchgemacht hatte! „...nirgendwo, ich komme nirgendwo her.", fügte Esa mit bitterer Miene hinzu und ließ den Schwamm platschend ins Wasser fallen.
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Dynastie der Drachen - Die Augen der Beute
FantasíaEsa lebt in einem Dorf weit abseits aller Städte, wo die Gefahr durch Drachen zu einer allgegenwärtigen Gefahr geworden ist. Ungeahnt dessen, dass der Kongress für die Sicherheit der Menschen sich in der Hauptstadt versammelt hat, um Alarm zu schlag...