- Kapitel 14 - Von gebrochenen Knochen und falschen Namen

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Nach einem Fußmarsch, der Esa die letzten Kräfte geraubt hatte, blieb der Fremde schließlich stehen. „Das sollte gut genug sein.", hörte sie ihn sagen, während er ihre Hand losließ. Sie brach sofort zusammen, sank einfach an Ort und Stelle nieder und wäre am liebsten gleich hier auf dem kalten Boden eingeschlafen. Obwohl die Sonne noch Kraft hatte, es also kaum Mittag war, fühlte sie sich ausgelaugt. Was war heute schon alles passiert? So wenig, und gleichzeitig zu viel. So viele Tränen hatten ihre Augen erschöpft. Sie ließ sich zur Seite plumpsen und legte die Wange auf die trockene Erde. Esa wollte ausruhen. Alles in ihr fühlte sich schwer an und zog sie herab. Da spürte auf einmal eine sanfte Wärme. Ein Feuer wurde entzündet, sie hörte ein anschwellendes Knistern. Der Fremde musste ein Feuer gemacht haben.

Sie drehte das Gesicht zur Wärme hin, genoss es mit geschlossenen Augen. Und etwas begann sich langsam in ihr zu lösen. Wie wohlig ihr wurde. Wie ein Knoten, der sich in ihrer Brust lockerte, ein schweres Tuch das angehoben wurde, sodass sie erstmals wieder richtig Luft bekam. Hier konnte sie also ausruhen und neue Kraft sammeln. Doch da spürte sie auf einmal ein schweres Gewicht auf sich. Bevor sie überhaupt verstehen konnte legte sich eine Hand über ihren Mund. „Nicht... schreien.", sagte der Fremde ruhig, als er sich rittlings auf sie setzte. Esa versuchte schwach sich zu winden, doch er hielt sie eisern unter sich und drehte sie auf den Rücken. Er war wirklich verdammt schwer, schwerer als Philos, der sie ja in einer ganz ähnlichen Position... Sie sog stockend die Luft ein und verkrampfte sich schlagartig. Die Arme dicht an den Brust drückt konnte sie kaum atmen vor Angst. Da nehm er auf einmal ihren ausgerenkten Arm, beschrieb mit ihm einen kleinen Kreis, der Esa spitz aufschreien ließ. „Was tust du?", fragte sie atemlos und wollte sich die Schulter halten, doch er wischte ihre Hand mühelos weg und legte stattdessen seine Hand auf die schmerzhafte Stelle. Sie hatte keine Luft mehr zum protestieren, denn im nächsten Moment stemmte er sein Gewicht auf ihre Schulter und zog gleichzeitig an ihrem Arm. Das alles passte so schnell, dass Esa nur noch spürte wie der Schmerz in ihr explodierte und von ihrer Schulter ausgehend durch ihren Körper jagte. Er riss ihr den Arm ab, oder? Oder brach er ihr die Knochen? Sie spürte nichts mehr außer heißen, alles verzerrenden Schmerz und außer einem gurgelnden Laut brachte sie nicht mal mehr einen Schrei über die Lippen. Sie verdrehte die Augen und für einen kurzen Moment dachte sie, in Ohnmacht zu fallen. Doch da sank der Schmerz zusammen, wurde kleiner und schwand beinahe.

Erst nachdem sie stark atmend wieder zu Sinnen kam spürte sie wie seine Hand ihren Arm am Ellbogen an ihrem Oberkörper stützte und seine warme Hand, die sich auf ihre Wange gelegt hatte. Und da war noch etwas. Ein unterschwelliges Brummen, eine so tiefe Note, die Esa sich nicht sicher war, ob sie sie wirklich hörte, oder es sich nur einbildete. War das der Fremde? Machte er diesen Ton, der ihr durch Mark und Bein ging und tief in ihren Körper drang, um dort etwas zu berühren? Sie wurde wie auf magische Weise ruhiger, ihr Atem wurde langsamer. Was tat er da?! War der Fremde also doch ein Magier? Wie sonst war das zu erklären, wenn nicht mit einem Zauber? „So ist es gut, atme weiter." Seine Stimme war warm, beinahe heiser über ihr. Und für einige Sekunden tat Esa auch nur das. Atmen, kraftlos, schockiert. Dann unterbrach ein trockenes Schluchzen die aufkommende Stille. „Tu mir nicht noch mehr weh, Fremder. Bitte. Ich will nicht mehr... Nein, ich kann nicht mehr! Ich mach alles... alles was du willst, aber bitte tu mir nicht wieder weh.", schluchzte Esa jämmerlich. Sie wusste nicht, was sie noch denken sollte oder was sie tun konnte. Sie wollte aufgeben. Wollte, das es nun endlich aufhörte mit dem Schmerz, mit der Angst, mit der Verwirrung.

„Schhh", machte der Fremde ruhig und wischte mit dem Daumen eine Träne von ihrer Wange. „Du hast mir bereits so viel Mut gezeigt. Sei auch jetzt mutig. Dir dein Ende herbeizusehnen wäre so eine sinnlose Verschwendung eines ohnehin viel zu kurzen Lebens. Dieser Tag wird enden, aber du wirst ihn überstehen. Du wirst den Morgen erleben, du wirst weiter atmen." Sein Ton ließ keine Widerworte zu, als entschied er das alles über ihren Kopf hinweg. Seine Worte drangen einmal mehr in ihre Brust, in ihren Kopf... in ihre Seele. Esa war zu erschöpft, um sich dagegen aufzulehnen. Aber wollte sie das überhaupt? Die Stimme des Fremden war tröstlicher als die ihrer Mutter je für sie gewesen war. Selbst wenn das nur ein Zauber war oder was auch immer, selbst wenn der Fremde ihr eben beinahe den Arm gebrochen hätte, sie wollte es zulassen. Sie MUSSTE es zulassen.

Sein Gewicht schwand auf einmal, genauso wie seine Hände von ihrem Gesicht. Er war aufgestanden und nahm sich einen der umliegenden Äste, um damit im Feuer zu stochern und es anschwellen zu lassen. Es knisterte wieder behaglich als das Feuer das Holz fraß. Esa schluckte und schloss müde die Augen. Der Schmerz hatte nachgelassen und nun übermannte sie die Schwere der Erleichterung und vermischte sich mit der Erschöpfung.
„Du hast mich nie nach meinem Namen gefragt.", meinte sie schließlich noch leise und wandte das Gesicht wieder zu der Wärme des Feuers. „Interessiert er dich nicht?" Es schwang eine milde Traurigkeit in ihrer Frage, auch wenn sie es gar nicht beabsichtigt hatte. Sie war definitiv zu müde für Traurigkeit oder Enttäuschung oder all das andere Chaos in ihrem Kopf. Natürlich bekam sie keine Antwort auf ihre Frage. Das hatte sie auch nicht wirklich erwartet. „Ich weiß, du willst mir deinen Namen nicht verraten und das musst du natürlich auch nicht. Du hast sicher deine Gründe es nicht zu tun. Sei es nur, damit du irgendwann einfach verschwinden kannst, ohne das ich dich jemals wieder finde. Theoretisch könntest du mir auch einen falschen Namen sagen und ich würde es nicht merken. Aber irgendwie muss ich dich nennen. Und du musst mich irgendwie nennen.", sprach Esa weiter und nestelte mit den Fingern an dem Fell, dass sie wärmend bedeckte. Es klang leise und schüchtern, als wäre sie schon auf dem halben weg ins Land der Träume. Vielleicht hatte der Fremde es auch gar nicht verstanden und tat ihr Gemurmel mit einem Schulterzucken ab. Doch diese Vermutung wurde sogleich weggewischt, da er tatsächlich nachdenklich brummte, als würde er über ihre Worte nachdenken.
„Na schön... dann nenn mich Zenon.", offenbarte er schließlich nach einem leisen Schnauben, dass das Ende seiner Überlegungen ankündigte. Esa wurde es sofort wärmer und sie konnte ein erleichtertes Seufzen nicht unterdrücken. Zenon... Sie probierte seinen Namen in Gedanken aus, formte ihn stumm mit ihren Lippen nach. Ob er ihr seinen richtigen Namen verraten hatte oder nicht, sie hatte nun etwas, woran sie sich hängen konnte. Der Fremde wurde aus seiner Unbekanntheit zu dem schmalen Personenkreis dazugenommen, die ihr bekannt waren und deren Gegenwart ihr allein dadurch Sicherheit gaben.
„Ich bin Esa.", entgegnete sie abermals leise, war sich diesmal aber sicher, dass er sie gehört hatte.

Dynastie der Drachen - Die Augen der BeuteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt