Erschrocken zusammenfahrend wachte Nell am nächsten Morgen auf. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, schweißnasse Kleidung klebte auf ihrer klammen Haut und sie stützte sich benommen auf ihre Arme um sich zu orientieren. Und erst als sie langsam wieder zur Besinnung kam, konnte sie aufatmen. Wieder ein Albtraum. Wie beinahe jede Nacht seit... ach, war ja auch nicht so wichtig.
Fröstelnd rieb sie sich die Augen und schaute zur Decke des Zeltes. Dort oben baumelten Socken und ein BH vor einem blassgrünen Himmel aus halbtransparenten Stoff. Es war noch früh, kurz vor Sonnenaufgang. Nells Wecker sagte ihr bei einem Blick auf den viel zu hellen Bildschirm, dass sie eigentlich noch eine gute Halbe Stunde hätte schlafen können. Was hatte sie geweckt? Das hartnäckige Zwitschern der ersten Vögel? Der Wind, der die Bäume knarzten und ächzen ließ? Oder... ein Summen. Nell versuchte sich darauf zu konzentrieren, legte den Kopf schief und lauschte. Aber so richtig konnte sie das Summen nicht von dem Rauschen des Wassers trennen.
Sie zog den Reisverschluss auf und blickte hinaus. Die Quelle des Summens kam vom Wasser. Nell lehnte sich vor um besser sehen zu können. Und da stand Igni, splitterfasernackt im Wasser. Er summte, nein, er sang. Leise. Sie konnte seine Worte nicht verstehen, aber es klang nach nichts, was ihr bekannt war. Er SANG. Herr Gott, erst Feuer, dann Singen, Nell war nun schon das zweite Mal schweigsam vor blankem Erstaunen und Unglauben. Wie konnte das sein? In all den Jahren die sie ihn und die anderen Individuen erforschte, hatte sie nie beobachtet, wie die Drachen ihre Stimme nutzten oder Feuer spieen oder... Die ganzen Theorien, die es heute gab, basierten nur auf ihn und seinen Vorfahren, nie auf wilden Subjekten. Nells These über das Vorhandensein einer möglichen Fähigkeit zu sprechen hatte sich noch nie beweisen können. Drachen sprachen nicht, so hatte sie es immer gelernt und gewusst. Und nun sang dieses Individuum, an dem sie die Fähigkeit zu Sprechen aufwendig anatomisch bewiesen hatte, als hätte er nie etwas anderes getan.
Nell lauschte sprachlos. Seine Stimme war ganz anders, als sie immer gedacht hatte. Sie klang sanfter, seidiger und tiefer. Nicht rau oder unbenutzt, wie sie es sich immer vorstellte. Eine Stimme mit der er definitiv dem ein oder anderen professionellen Sänger Konkurrenz machen konnte. Beinahe abwesend suchte Nells Hand nach dem Diktiergerät, das sie eigentlich als Logbuch für ihre Mission mitgenommen hatte, nicht für Studien an Igni. Verdammt wo war das Ding? Sie musste das hier unbedingt aufnehmen, sonst würde es ihr später keiner glauben. Metalltassen klapperten, Stoffe wurden achtlos zur Seite geschoben, Notizbücher rutschten aus dem Rucksack. Und als Nell das kleine schwarze Gerät endlich zwischen den Sachen fand und es eilig anschalten sollte, merkte sie, dass der Gesang verschwunden war. Sie sah hoch, zu dem Punkt wo Igni stand. Er hatte sich umgedreht und sah sie an. Sein Blick wanderte in stummer Anklage einmal zu dem Gerät in ihren Händen, dann wieder zu ihr. Er wirkte gereizt, die Augen misstrauisch verengt, sein Kiefer war angespannt. Nell ließ die Hände langsam sinken. Da kam er auf einmal auf sie zu. Schnell beeilte sich Nell aufzustehen, einem Drachen sollte man nie in Geduckter oder Sitzender Position begegnen. Damit symbolisiert man, dass man sich unterwarf und Nell wollte keine Aggression provozieren. Sie kannte Igni zwar, und sie konnte auch einige Dinge weglassen, die im offiziellen Verhaltensprotokoll standen, aber sie musste dennoch stets wachsam und vorsichtig bleiben. Kein Kollege, ein Drache, rief sie sich in Erinnerung und straffte die Schultern.
Und dann stand er vor ihr. Wassertropfen perlten an ihm herunter und machten Bögen um seine Muskeln. Sein Körper war an einigen Stellen von kleinen Narben übersät, kaum so groß ein ein Fingernagel. Es waren Überbleibsel von Einstichen zur Forschung und Behandlung, dort wo seine Haut tief verletzt werden musste um Schläuche, Nadel und Kanülen einzuführen. Trotzdem sie so winzig waren, fielen sie doch auf seiner ansonsten makellosen hellen Haut auf. Sie hatte ihn schon einige Male nackt gesehen, deshalb zuckte sie nicht mit der Wimper, als er nun vor ihr Stand wie Gott ihn schuf.
Nell musste den Kopf in den Nacken legen um zu ihm aufzuschauen.
„Ich wusste nicht, dass du singen kannst. Deshalb wollte ich es aufnehmen, um es den anderen Forschern zu zeigen, wenn wir zurückgehen. Möchtest du es nicht noch einmal für das Mikro tun?", fragte Nell ohne Bedenken und hielt es hoch, während sie auf Aufnahme drückte. Doch Igni schwieg. Er sah sie einfach nur anklagend an bis sie seufzend auf Stopp drückte. Natürlich würde er es nicht tun, wenn sie ihn dazu aufforderte, wäre ja noch schöner. „Also gut, schon verstanden. Dann eben nicht.", meinte Nell und wollte das Gerät gerade in eine ihrer Hosentaschen schieben, um es, im dem Fall das es nochmal geschehen sollte, griffbereit zu haben. Da griff seine Hand blitzschnell nach dem Gerät und nahm es ihr trotz Widerstand scheinbar mühelos ab. „Was tust du denn da? Das ist teure Technik, davon habe ich nur eins mit. Wenn das kaputt geht, muss ich dafür aufkommen.", protestierte Nell und wollte sich das Gerät zurückholen, da griff Igni mit seiner freien Hand an ihren Hals. Aufkeuchend erstarrte Nell und fasste automatisch nach seinem Handgelenk. Obwohl er nicht fest zupackte - nicht auszumalen wenn er es täte! - und seine Hand nur puderweich auf ihrer Haut lag, stand Nells Körper mit einem Mal unter Storm und die Müdigkeit sowie der milde Ärger über die verpasste Aufnahme sind schlagartig vergessen. Sein Finger glitt über den Aufnahmeknopf und drückte ihn runter. „Nein" Ein simples Wort, kaum der Rede Wert, aber nicht aus der Kehle eines Menschen. Er sprach. Nell konnte ihren Ohren nicht trauen! Oder hatte sie sich da gerade verhört? Hatte ein Baum geknackt, ein Stein sich im Wasser bewegt? Nein, er musste wirklich gesprochen haben. Gott, konnte das stimmen? Erst singen und nun...
Nell konnte sich nur sprachlos und mit offenem Mund zu ihm hochstarren wie er mit eiskalter und nunmehr ausdrucksloser Miene zurückschaute. Warte, was hatte er gesagt? Sie war so schockiert davon, ihn überhaupt sprechen zu hören, dass sie gar nicht verstanden hatte was genau er sagte.Da knirschte es ganz entsetzlich und für einen winzigen Moment hatte Nell Angst es könnten ihre Knochen sein, die da zerbersten, aber es war das Diktiergerät in seiner Hand. In nicht mal einem Wimpernschlag hatte es sich in ein Stück Schrott verwandelt, das mit einer kleinen Rauchwolke seinen Tod verkündete. Das hätte auch Nells Hals sein können. Sie sah Igni im blanken Entsetzen an. Dieser nahm seine Hand von ihrem Hals, und legte demonstrativ das zerstörte Gerät in ihre Hände, die er dann vorsichtig darum schloss. „Nein", wiederholte er leise und blickte ihr tief in die Augen. Unfähig überhaupt noch etwas zu sagen erwiderte Nell seinen Blick und versuchte zu erahnen was er dachte. Aber seine Gedanken blieben ihr verschlossen. Ohne Antwort unterbrach er den Blickkontakt und wandte sich ab. Mit fließenden Schritten ging er zum Wasser zurück und ließ Nell dort vor ihrem Zelt stehen. Sie schluckte rau und starrte seinen weißen Rücken an, als hätte er auch dort Augen. Mit schweißnassen Hände ließ Nell sich wieder sinken und schielte zu dem Tablet, das seit gestern Abend auf der Decke neben der ausgebrannten Feuerstelle lag. Mit bebenden Finger schaltete sie es ein und sah wie sich Ignis Werte updateten. Und das Ergebnis bestätigte, was sie befürchtet hatte. Alle Werte waren normal. Kein schneller Puls, keine veränderte Atmung. Stimmung: Ausgeglichen.
Noch einmal schluckte sie und sah wieder zu Igni, der sich seelenruhig anzog. Und ein Gedanke brannte wie Feuer in ihrem Kopf und schickte einen kalten Schauer über ihren Rücken: Er hätte sie töten können, ohne dass sein Puls sich auch nur im geringsten beschleunigt hätte. Er war seelenruhig.
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Dynastie der Drachen - Die Augen der Beute
FantasyEsa lebt in einem Dorf weit abseits aller Städte, wo die Gefahr durch Drachen zu einer allgegenwärtigen Gefahr geworden ist. Ungeahnt dessen, dass der Kongress für die Sicherheit der Menschen sich in der Hauptstadt versammelt hat, um Alarm zu schlag...