- Kapitel 30 - Allein

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Die Sonne war schon aufgegangen und der Himmel über ihr war blau mit einigen ruhigen, weißen Wolken durchzogen. Nell wusste nicht genau, wie lange sie geschlafen hatte. Es fühlte sich spät an, aber das Aufstehen fiel ihr schwer. Ihr Kopf brummte wie nach zu viel Alkohol und ein pelziger Geschmack lag auf ihrer Zunge. Kurz überlegte sie wirklich, ob sie sich aus Frust oder Laune den alten, sündhaft teuren Wein geöffnet hatte, der in ihrer Tasche war und den sie für den erfolgreichen Abschluss ihrer Expedition aufbewahrt hatte. Aber dann erinnerte sie sich träge daran, was sich am gestrigen Abend zugetragen hatte... und war nicht weniger deprimiert darüber.

Schwerfälligkeit stemmte sie sich hoch, massierte sich den Nacken. Als sie an sich runter sah erkannte sie getrocknetes Blut auf ihrem Shirt. Oh man, das sah ganz schön übel aus! Als hätte sie in der Nacht an irgendwelchen Opferritualen teilgenommen oder wäre selbst abgestochen worden. Sie kratzte angewidert an den krustigen Rändern der Flecken, in der Hoffnung die dicken Lagen würde sich irgendwie lösen, gab es aber schnell wieder auf. Warum hatte ihr Wecker sie eigentlich nicht geweckt? Sie hatte ihn vor dem Schlafen gestellt, da war sie sich ganz sicher.

Als sie müde danach suchend zu ihrem Rucksack rüber ging sah sie den Wecker bereits oben aufliegen. Oder jedenfalls das, was davon übrig war. Das kleine Häuflein Schrott ließ sich nur noch schwer als Wecker identifizieren. Vermutlich zerquetscht oder zertrümmert durch eine stumpfe Gewalteinwirkung. Der zerbrochene Display war schwarz. Nell blinzelte entsetzt, seufzte lang und tief und wischte den Plastikmüll dann mit der Hand bei Seite. Sie brauchte jetzt erstmal eine Schmerztablette für ihren Brummschädel und dann konnte es weiter gehen. Sie fischte sich eine Tablette heraus, schluckte sie mit zwei Schlucken Wasser herunter und wartete kurz bis die Wirkung einsetzte.

Igni hatte also ihren Wecker zertrümmert. Schön! Wahrscheinlich hatte ihn das Geräusch gereizt oder was auch immer. Sie seufzte erneut müde. Diese Expedition war eine Katastrophe! Der Sachschaden allein war es eigentlich schon längst nicht mehr Wert weiterzugehen. Der Wecker und das Diktiergerät waren dabei das wenigste. Aber der Chip? Das Ding war eine Hightech Sonderanfertigung vom Verteidigungsministerium, und musste nun komplett neu hergestellt werden. Dafür gab es keine genormten Maschinen, jeder Chip war ein Einzelstück und musste von Spezialisten per Hand und dazu direkt am Subjekt zusammengebaut werden. Nell wusste nicht genau wie teuer so ein Chip war, aber ihr war klar, dass es ihr Budget um die ein oder andere Null sprengen würde. Oh Gott!!! Sie war ruiniert!

Und wo war Igni eigentlich? Als sie nun langsam und mit tiefen Augenringen umherschaute, konnte sie ihn nirgendwo ausmachen. Ob er sich waschen gegangen war? Sie rieb sich die Augen. Wahrscheinlich würde er gleich wieder auftauchen, dachte sie träge und suchte sich ein karges eingeschweißtes Frühstück aus ihrem Rucksack. Zu faul die Packung zu erwärmen, schlang sie sich die Portion Porridge kalt herunter. Es schmeckte fade, kaum nach irgendwas und passte zu ihrer momentanen Stimmung. Sie überlegte, wie sie nun weitermachen sollte und ob sie es überhaupt noch sollte.

Und als sie aufgegessen, das Lager aufgeräumt hatte und sich selbst halbwegs in Ordnung gebracht hatte, war von Igni noch immer keine Spur. Nell kam ein böser Verdacht auf, als sie erneut, vielleicht das zehnte Mal heute Morgen den Blick in die Ferne schweifen ließ um Igni zu suchen. Vielleicht war er bei ihrem Glück schon über alle Berge, jetzt, da sein Chip seinen Ort nicht mehr angeben konnte. Vielleicht war er einfach weggelaufen. Es gab immerhin nichts mehr was ihn bei ihr hielt. Oder dachte sie einfach nur schrecklich negativ und er würde doch noch gleich auftauchen?

Jedenfalls wäre auch das ein Vermögen für nichts, wenn er wirklich fort war. Ein gezähmter Drache kostete und selbst, wenn die Versicherung einen Großteil übernahm, konnte Nell die Kosten nicht decken. Ausbildung, Erziehung, die OPs, all das war unerschwinglich teuer, allein schon die Maschinen die gebraucht wurden, um die Drachenbabys auszutragen, - denn es wäre natürlich unethisch das Leben einer menschlichen Frau dafür aufs Spiel zu setzen - war ab Stunde eins nur für Milliardäre möglich. Eigentlich hätte es sich jetzt mehr gelohnt einfach zusammenzupacken und den Heimweg anzutreten, aber Nell war jetzt so nahe dran. Dieses Dorf, ausgebrannt oder nicht, war das Eingangstor zum Clan der ansässigen Drachen und sie war so kurz davor es zu betreten.

Also gut... jetzt war sowieso alles egal, dachte Nell resignierend und hielt nebenbei immer noch nach Igni Ausschau, falls er doch noch auftauchen sollte. Aber nichts, er blieb verschwunden. Nell schulterte schließlich ihre Sachen bildete mit den Händen einen Trichter vor ihrem Mund und rief seinen Namen, falls er noch irgendwo in der Nähe war würde er das sicher hören. Aber auch als sie noch ein weiteres Mal gerufen hatte kam keine Antwort, keine Bewegung, kein irgendwas. Also wirklich... er war weg, wie sie es befürchtet hattet. Nell schluckte aufsteigende Traurigkeit runter und legte den Kopf in den Nacken um dem Himmel freudlos, bitter und lauter Verzweiflung entgegen zu lachen. Sie lachte, als müsste sie sich selbst beweisen wie wenig sie das bei ihrer Mission störte. Als müsste sie sich so neuen Mut geben, um auch allein, von allen verlassen, weiterzumachen. Doch sobald sie verstummte wurde es still um sie herum... „Du Arschloch...", fügte sie leise, traurig flüsternd an Igni gerichtet hinzu, biss sich auf die Unterlippe, atmete tief durch und machte sich dann daran weiter aufzusteigen.

Pah, sie brauchte Igni eigentlich gar nicht, redete sie sich innerlich wütend und trotzig ein. Ohne ihn würde sie genauso gut vorankommen und ihr Lager konnte sie auch allein gut aufschlagen. Wäsche waschen, Feuerholz suchen und ein Lagerfeuer machen waren keine Hürde wegen dem sie einen Drachen bei sich haben musste. Pah! Wozu hatte sie einen Survival Kurs mitgemacht, wenn nicht für jetzt? Sie war immerhin keine Prinzessin, die sich nicht traute die Hände schmutzig zu machen.

Dynastie der Drachen - Die Augen der BeuteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt