- Kapitel 10 - Schmutzig

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Es war etwa eine Stunde vergangen seit Philos sie hier auf dem Sofa liegen gelassen hatte, nachdem er fertig war. Er hatte nichts gesagt, er kannte nicht mal gefragt ob es ihr gut ging, er war einfach gegangen. Wo auch immer hin. Und noch immer hatte sich Esa kein Stück gerührt. Sie lag noch immer da, wie ein zerbrochenes Spielzeug, der Arm hing kraftlos von der Sitzkante und die Tränen waren auf ihren roten Wagen zu verkrusteten Linien getrocknet. Sie fühlte sich leer und kraftlos, als hätte alle Lebenskraft sie verlassen. Außerdem brannte ihre Mitte und ihr Bauch schmerzte, als wäre ihr monatliches Blut gekommen. Aber sie wusste, das es dafür noch nicht die Zeit war. Alles wirkte so dumpf, wie durch filzigen Stoff und langsam, als wäre irgendetwas kaputt gegangen, als hätte die Welt verlernt schön zu sein. Oder war es Esa, die kaputt war?

Sie hustete trocken, als das Kratzen in ihrem Hals zunahm. Und wenn sie einfach hier liegen blieb? Krank, kraftlos und traurig. Sie war so traurig und wütend gleichzeitig, aber weder konnte sie schreien noch weinen. Und sie wollte so sehr weinen, bis die ganze Welt ertrank, damit die anderen mitbekamen was hier gerade passierte. Damit ihr jemand half. Doch... wer sollte ihr schon helfen? Von Mutter hatte sie kein Mitleid zu erwarten und die anderen Familien freuten sich, wenn der einzig gebliebene Sohn endlich eine Frau hatte. Was war das nur für ein irres Spiel, das hier stattfand. Wie verzweifelt musste ein ganzes Dorf sein, um so etwas zuzulassen? Esa wusste natürlich die Antwort: Sehr verzweifelt! Einige der jungen Männer waren weggewandert, weil sie ihr Glück woanders suchen wollten. Die wenigen, die geblieben waren kannten das Schicksal, das sie ereilen würde. Das Dorf lag im Sterben und Esa versuchte nun Wunden zu heilen, die tödlich tief waren. Aussichtslos...

Matt richtete sie sich auf, zog ihre Röcke mit zitternden Händen heftig hinunter bis zu den Knöcheln. Sie fühlte sich schmutzig und da war ein feuchter Fleck in ihrem Unterzeug der kalt und klebrig ihre Finger benetzte. Blut, sickerte es langsam in ihren Verstand als sie ihre Finger vor ihr Gesicht hob. Sie musste sich waschen, kam der nächste Gedanke quälend langsam in ihrem Kopf auf. Sie musste ihre Kleider waschen. Ihre Hände, ihr Gesicht. Das musste alles wieder sauber werden.

Wackelig auf den Beinen stand sie auf und suchte die Haustür. Es war schwer sich zu orientieren, sie kannte das Haus nicht und war gerade zu verwirrt, um logisch zu denken. Als sie die Tür an der Wand langgehend gefunden hatte drückte sie Klinke runter, nur um festzustellen, dass abgeschlossen war. Philos hatte sie eingesperrt wie einen Hund. Esas träge arbeitende Verstand kapierte erst nach mehrmaligem Runterdrücken und Rütteln der Klinke das es wirklich verschlossen war. Nein, dachte sie gequält. Sie musste sich doch waschen, waschen, WASCHEN. Sie musste wieder sauber werden.

Mit zusammengekniffenen Lippen ging sie zu den beiden Fenstern an der anderen Seite des Raumes. Sie war doch schlank, sie würde sich durch eine kleine Öffnung hindurchquetschen können. Aber die Fenster ließen sich nur drehend öffnen, der Fensterrahmen war in der Mitte in der Wand befestigt, die entstehende Lücke war sehr schmal. Esa versuchte es, aber sie kam nicht durch, es war einfach zu eng. Neue Tränen sammelten sich in ihren Augen. Das war nicht wirklich, das konnte alles nicht wahr sein! Bei den Ahnen, das durfte doch nicht geschehen.

Sich stark zusammenreißend, um nicht vollkommen die Fassung zu verlieren und hysterisch zu werden, beschloss sie auch die restlichen Fenster im Haus zu öffnen. Es MUSSTE einen Ausweg geben. Doch alle Fenster im Erdgeschoss waren klein und eng. Als sie die Fenster im ersten Stockwerk kontrollierte, wurde sie jedoch fündig. In dem Flur, gleich gegenüber der Treppe gab es ein großzügiges Fenster wodurch der Raum von Licht geflutet wurde. Aber so sehr sie daran rumdrückte, schob, drehte und sich schließlich einen Fingernagel abbrach, es ließ sich nicht öffnen. Ihr Herz schlug verzweifelt in ihrer Brust. Das konnte nicht das Ende sein, sie würde nicht so einfach aufgeben. Allein der Gedanke verursachte ihr kalten Schweiß auf dem Rücken. Nein, sie war nicht gefangen in dieser Hölle!
Aber vielleicht waren all das ihre fahrigen Gedanken, die sich in Verzweiflung überschlug, um sich nicht mit dem wahrscheinlichsten auseinanderzusetzen, welches sich wie glühende Nadeln durch ihr Inneres bohrte.

Sie tastete um sich und fand an der Wand stehend einen mittelhohen Schrank. Auf ihm umfasste ihr nun völlig unkontrollierbar bebenden Hände einen schweren Kerzenständer. Ohne noch groß nachzudenken schlug sie damit auf die Scheibe ein. Wieder und wieder, hörte Glass knacken, aber nicht zerschellen. Noch einmal holte sie aus, setzte alle Kraft, die sie noch hatte in den Schlag und dann plötzlich regnete es Scherben. Frischer Wind wehte ihr entgegen, brannte in den Schnitten auf ihrer Hand. Sie atmete zittrig durch und stieg dann durch den Rahmen. Sie wusste nicht, wie hoch sie war aber das große nichts unter ihren Füßen beunruhigte sie etwas. Aber es war bei weitem nicht so Angst einflößend wie in diesem Haus zu bleiben! Also tat sie es. Sie sprang.

Und für die Sekunde freien Fall, die ihr länger vorkam, fühlte sie sich besser. Frei. Geschafft. Entkommen. Triumph wollte sich in ihrer Brust ausbreiten, doch da kam der Aufprall. Sie hatte Glück, ihr Fall wurde durch einen kleinen Haufen Stroh gebremst, der als Futter für die Pferde diente. Dennoch konnte sie sich kaum mit den Beinen abfangen, knickte um und rollte unkontrolliert aus, wobei sie sich die Schulter auskugelte. Atemlos vor Schmerz blieb sie einen Moment liegen, und keuchte dann gepresst. Nur nicht schreien, schreien würde Leute aufmerksam machen. Offensichtlich war das Fenster zum Hinterhof gerichtet gewesen und sie war bei den Pferdeställen hinter dem Haus gelandet.

Mit starken Schmerzen rappelte Esa sich wieder hoch und orientierte sich schwer atmend. Dann humpelte sie langsam in Richtung des Dorfrandes, an Philos' Haus vorbei, den Dorfplatz meidend. Sie wollte jetzt niemanden begegnen und keine Fragen beantworten. Nicht, jemand sie noch zurück brachte, wieder ins Haus, wo ihre Flucht von neuem Begann.

Sie kämpfte sich zu den Terrassen vor dem Dorf, und nahm dann die Treppen, langsam und stetig. Aber jedes Auftreten ihres Fußes schickte einen gleißenden Blitz durch ihr Bein und lähmte jedes mal ihren Atem von Schmerz.

Irgendwann kam sie vollkommen erschöpft am Ufer des Flusses an. Bebend wollte sie noch einige Schritte in Richtung des Wassers machen, doch ihre Beine gaben einfach unter ihr nach. Ihr war schwindelig, alles waberte vor sich hin und eine kalte Gänsehaut überzog sie. Ihr Atem und ihr Puls wurden überlaut in ihren Ohren, und verdrängten die Außenwelt. Und so blieb sie einfach sitzen und versuchte sich auf ihren Atem zu konzentrieren, ruhiger zu werden, tief ein und aus zu atmen.

Dynastie der Drachen - Die Augen der BeuteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt