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Elisabeth Karlsson:

Masha und ich stiegen aus dem Bus aus, welcher ein paar Sekunden später schon davonfuhr.
"Ich studiere hier...", erklärte ich, als wir auf das große Universitätsgebäude zugingen.
-"Ja... bei mir ist das schon ein paar Jährchen her...", meinte Masha einfach nur und klärte damit meine innere Frage, ob sie möglicherweise auch hier studierte, aber schon ein paar Jahre älter war, als ich. Wobei sie mir nicht älter, als 30 vorkam. Im nächsten Moment wusste ich, dass ich etwas sagen musste, ohne einen ungewollten Eindruck zu hinterlassen.
"Und... was machst du denn hier?", fragte ich vorsichtig und sah während des Gehens zu Masha.
"Ich geh' in die Bibliothek...", sagte sie, sah mich dabei auch für eine Sekunde lang an, wobei sich unsere Blicke sich wieder trafen und ich in die dunkelbraunen Augen meines Gegenübers sah. Dabei fügte Masha noch ziemlich nostalgisch hinzu: -"Da war ich schon ziemlich lange nicht mehr...", schloss dann aber viel beiläufiger und emotionsloser: "Keine Zeit und so", bevor wir wieder geradeaus sahen und auf die Treppe zur Bibliothek zugingen.
In der Bibliothek war es wie immer totenstill, was am späten Nachmittag aber eher daran lag, dass die meisten Studenten schon zu Hause waren oder sich nur Bücher geliehen hatten. Ich kannte außer mich kaum einen Menschen, der sich zum Lernen noch in die Bibliothek setzte.
Die Wege von Masha und mir hatten sich getrennt. Sie ging die schmale Treppe nach oben zu den Schreibtischen, an denen an dem Tag keiner saß, während ich unten die Regalreihen entlangging. Eigentlich war mir die rothaarige Frau auch schon fast wieder egal geworden, wäre da nicht dieser vertraute Aspekt gewesen, den ich spürte. Denn auch wenn ich wusste, dass sie es war, die ich am Abend zuvor beim Spaziergang gesehen hatte, war da noch etwas anderes, an das sie mich zu erinnern schien. Allerdings konnte ich immer noch nicht herausfinden, was es war.
Ich suchte nach ein paar Büchern über die slawische Geschichte, das russische Zarenreich zum Beispiel, aber auch welche über die Neuzeit, den Kalten Krieg zum Beispiel. Die nächsten Themenbereiche, die in meinem Studium anstanden, denn in meinem nächsten Semester, dem Sommersemester, würde es um die slawische Geschichte gehen. Ich hatte schließlich drei Bücher gefunden, zwei von ihnen mit vielen Daten und Zeitleisten, was vor allem für die Seminare von Vorteil war. Von beiden war das Thema die Geschichte Russlands, während sich eines dabei auf die Jahre 862 - 1400 und das andere auf die Jahre 1400 - 2000. Das andere Buch drehte sich allgemein um die slawische Geschichte. Ich ging weiter das Regal entlang und streifte mit meinen Fingern immer wieder gedankenverloren über die Bücher. Und ich dachte dabei daran, dass es schon mindestens 17 Uhr war, ich mich dringend auf den Nachhauseweg machen sollte, zumal ich noch einkaufen und mir etwas zum Essen machen musste. Allerdings blieb ich mit meinem Daumen an einem Buch, dessen Umschlag in Rot leuchtete, hängen. Es wurde aber schon von der anderen Seite des Regals aus herausgezogen, bevor ich überhaupt einen Blick auf den Namen des Buches werfen konnte. Und als ich durch die Lücke sah, die im Regal entstanden war, erkannte ich auch, wer sich das Buch genommen hatte. Auf der anderen Seite des großen hölzernen Bücherregals stand nämlich eine Frau mit dunklen Augen und hochgesteckten roten Haaren. Es war Masha und sie sah mich ebenso verwirrt an, wie ich sie anschauen musste, vor allem, weil sie nun das Buch in der Hand hielt, welches eben mein Interesse geweckt hatte. Schnell reichte sie es durch die entstandene Lücke zu mir hinüber.
-"Hier... für dich ist es wichtiger... du studierst noch...", erklärte sie, warum sie mir das rot eingebundene Buch über den Kalten Krieg gegeben hatte. Ich nahm dieses entgegen, ging dann schnell zu ihr hinüber.
"Danke...", sagte ich, als wir uns mit etwa einem Meter Abstand gegenüberstanden. Mein Gegenüber lächelte und ich konnte es nicht lassen, schon wieder in Mashas Augen zu starren. Ihre Augenfarbe hatte irgendwas ganz Tiefes, aber unbelebt war es nicht. Und während ihr Blick vor wenigen Sekunden noch unfokussiert in der Gegend herumgewandert war, sah sie mich jetzt scheinbar bewusst an. Ihr Blick hing an mir, genauso wie meiner an ihr und dabei insbesondere an ihren dunkelbraunen Augen hängengeblieben war. Die Augen meines Gegenübers glänzten leicht und ich konnte an jedem kleinen Zucken, jeder kleinen Bewegung um ihre Augen herum erkennen, dass sie dagegen ankämpfte, mich nicht komplett auffällig anzulächeln. Und wenn ich ehrlich mit mir war, dann fiel es mir innerhalb der wenigen Sekunden, in denen wir diesen stillen Blickkontakt hatten, immer schwerer, nicht auch über das ganze Gesicht zu lächeln. Ich wusste nicht warum, aber die schönen, glänzenden Augen und das warme und freundliche Gesicht meines Gegenübers brachten irgendwas in mir dazu, lächeln zu wollen. Ich sah weiterhin in Mashas dunkle Augen. Und diese hingen auch mit einem durchdringenden Blick an meinen eher unspektakulären blaugrauen Augen fest und erst, als ich blinzelte, schien sowohl Masha als auch ich wieder in der Gegenwart angekommen zu sein. Ich fragte mich selbst innerhalb einer Sekunde aktiv, was das war und was es zu bedeuten hatte. Das Starren, der stille Blickkontakt ging knappe fünf Sekunden und vor allem die Stille, die herrschte, sprach für sich, obwohl ich mir nicht sicher war, in welche Richtung dieser Blick genau gemeint war. Masha räusperte sich und sah für eine Sekunde weg, dann wieder zu mir. Auch ich ließ meinen Blick für einen kurzen Moment durch den Raum schweifen, beziehungsweise an den vielen Büchern entlang, zwischen denen wir nach wie vor auf einem engen Gang zwischen zwei hohen Regalen standen. Ich strich mir eine meiner blond gefärbten Haarsträhnen vorne aus dem Gesicht und sah wieder zu Masha, auf deren Gesicht ich inzwischen wirklich ein schwaches Lächeln erkennen konnte.
-"Sorry...", flüsterte sie so leise, dass sie wahrscheinlich gar nicht davon ausging, dass ich es hören würde, weswegen ich ihr auch keine Antwort darauf gab. Dann fiel ihr Blick auf das Buch, welches sie mir gegeben hatte, nachdem sie sich es eigentlich hatte nehmen wollen. Kurz haftete ihr Blick daran, dann sah sie wieder ziemlich neutral zu mir.
Wir waren nicht lange in der Bibliothek, ich zumindest nicht. Und dass Masha ebenso lange wie ich dort gewesen war, hatte ich nicht erwartet. Es musste kurz nach 18 Uhr sein, als ich die Treppen hinunter aus dem Gebäude hinausging, nachdem ich mir die drei Bücher, die ich mir genommen hatte, ausgeliehen hatte. Alle drei Bücher hatte ich in meinen kleinen Rucksack gesteckt und an der Tür am Fuße der Treppe angekommen, sah ich mich draußen um. Der Himmel war nicht mehr graublau, sondern verdunkelte sich und es sah ziemlich nach Regen aus. Direkt neben der Treppe draußen sah ich eine Person, die an die Wand gelehnt stand und rauchte. Es war Masha, die ihre Haare scheinbar zu einem festen Knoten hochgebunden hatte und dort nun mit einer Zigarette in der Hand stand und in die Ferne starrte und zwischendurch in den Himmel. Kurz beobachtete ich die rothaarige Frau, wie sie dort stand und gedankenverloren geradeaus sah, während sie an der Zigarette zog, die sie in den Fingern ihrer rechten Hand hielt. Ich merkte, dass dieser Anblick irgendwas mit mir machte. Denn es hatte nicht nur etwas Ästhetisches an sich, wie Masha dort stand und kaum eine der roten Haarsträhnen in ihr Gesicht fiel und sie dabei immer wieder den Rauch ausatmete, der eigentlich jedem Menschen schadet. Aber das Gefühl, welches ich bei dem Anblick eigentlich hatte, war auch ein anderes. Es fühlte sich an, als hätte ich das alles schon einmal erlebt und als hätte ich Masha schon vorher gekannt. Aber daraufhin schüttelte ich nur den Kopf und ging die Treppe hinunter zu der jungen Frau, die gerade ihre Zigarette austrat und sie eine neue nehmen wollte, als sie mich bemerkte.
-"Verfolgst du mich?", fragte Masha mich, aber lächelte mich an und hob ihre rechte Augenbraue ein wenig an. Im ersten Moment konnte ich nichts sagen, sondern nur in ihre dunkelbraunen Augen starren, aber dann fielen mir schnell Worte ein. Trotzdem konnte ich nur stottern: "Nein... Ich... Also... Ich hoffe nicht, dass es so wirkt...", aber Masha lächelte schon wieder. Und nachdem ich für eine Sekunde wieder in ihre dunklen Augen gesehen hatte, antwortete mein Gegenüber mir.
-„Vielleicht ein bisschen... Aber ich finde dich nicht unheimlich...", lächelte Masha und ohne Grund begann ich bei den Worten der rothaarigen Frau ebenfalls zu lächeln. Dann sah sie kurz auf ihr Handy, packte schnell ihre Zigaretten weg und sah mich ziemlich nervös an.
-„Mein Bus fährt in zwei Minuten...", erklärte sie hastig und ich nickte.
„Okay... Ich müsste auch... mal wieder los", stotterte ich und Masha musste wieder lächeln. Ich wollte wirklich nicht so wirken, als würde ich sie verfolgen. Aber sie nickte nur, bevor wir losgingen.
Auf dem Weg zur Bushaltestelle schienen wir uns ziemlich viel Zeit gelassen zu haben. Wir redeten wieder über die Universität und ich erfuhr, dass Masha dort vor ein paar Jahren Geschichte studiert hat und mittlerweile Historikerin ist. Und ich erzählte ein wenig von meinem Slawistikstudium, während über uns der Himmel immer dunkler wurde. Genau in dem Moment, in dem wir an der Bushaltestelle an der Universität ankamen, fuhr uns der Bus vor der Nase weg und Masha und ich blieben etwas genervt zurück. Seufzend setzte sich Masha auf die alte Metallbank an der Haltestelle und sah in den Himmel, der beinahe dunkelgrau war und nicht nur nach Dämmerung, sondern auch nach Regen aussah. Über der kleinen Metallbank, auf der Masha saß, war keine Überdachung und ich wusste, dass wir jeden Moment nass werden könnten, sobald der Regen über uns hineinbricht. Trotzdem meinte Masha nach ein paar Minuten: „Okay... Dann müssen wir wohl zu Fuß weitergehen...". Und ich war mir nicht sicher, ob sie mit Absicht 'wir' und nicht 'ich' sagte.

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