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Masha Karminsky:

Ich saß im Bus und bemerkte die Person neben mir bewusst. Aber wissen, ob ich sie ansprechen und ihr den Platz neben mir anbieten sollte, tat ich nicht. Ich sah nur immer wieder aus dem Augenwinkel zu dem Mädchen mit den braunen Haaren, die vorne am Gesicht blond gefärbt waren. Eigentlich musste es mir schon fast unheimlich vorkommen, dass sie mir folgte. Immerhin war sie nur kurze Zeit, nachdem ich aus dem Café verschwunden war auch gegangen und nun war sie mit mir im selben Bus, stand sogar direkt neben mir. Aber ich fand sie nicht gruselig. Vielmehr interessant und irgendwie war sie auch schön. Auf eine sehr besondere Art und Weise. Und in den letzten Minuten hatte ich häufig ihren Blick auf mir bemerkt. Eigentlich auch ein Zeichen, welches mich hätte gruseln können. Aber das tat es nicht. Eher fühlte es sich für mich so an, als würde ein mir bekannter Blick auf mir liegen und mich, meine ganze Persönlichkeit irgendwie lesen. Auch, wenn das auch auf eine Art und Weise unheimlich gewesen wäre. Schließlich konnte niemand so schnell zu mir, Masha Karminsky, durchdringen. Und niemand konnte so schnell mein Dasein hinter der Fassade, geschweige denn mein Vertrauen gewinnen. Und aus dem Augenwinkel beobachtete ich die junge Frau, die unmittelbar neben mir in dem vollen Bus stand. Sie sah ein wenig nervös aus, beobachtete mich aber auch zwischendurch immer wieder. Sie tat mir schon beinahe ein wenig leid, dass sie dicht zwischen mich und die Grundschüler gedrängt stand und bei jeder Ecke, um die der Bus fuhr, Mühe hatte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Und das sah ich mir schon seit fast drei Minuten mit an. Bis es nicht mehr ging und ich mich dazu entschied, die junge Frau darauf aufmerksam zu machen, zumindest links von mir eigentlich noch ein Platz frei war, ich dort nur meinen schwarzen Rucksack und meinen dicken Schal platziert hatte. Vorsichtig berührte ich für eine Sekunde lang die Oberfläche ihrer Hand mit meinen Fingern, weil ich nicht wusste, wie ich sie sonst darauf aufmerksam machen sollte, da ich schon gesehen hatte, dass sie Kopfhörer in ihren Ohren hatte. Schnell zuckte sie ein wenig zusammen und ich zog sofort meine Hand zurück, während die junge Frau mich ansah, ihre Kopfhörer aus ihren Ohren nahm und ihre Musik stoppte. Für einen Moment konnte ich einen Blick auf das Display ihres Handys erhaschen. Sie hörte 'Strangelove' von Depeche Mode. Ihr Musikgeschmack war immerhin nicht schlecht. Aber ich merkte ihren Blick auf mir stechen, weswegen ich der Braunhaarigen in die Augen sah. Ihr Blick war ziemlich tief, erschreckend tief dafür, dass ich sie nur auf etwas aufmerksam machen wollte und sie sah mich nervös an. Ich versuchte einen Satz zu formulieren, mit dem ich mich erklären konnte:
"Wollen Sie sich hinsetzen? Also... nicht, dass ich denke, dass Sie es aufgrund von irgendwas nötig hätten... nur.... Der ganze Bus ist überfüllt mit Kindern und Sie müssen als einzige Person hier herumstehen... und-", versuchte ich, zu erklären, aber kam nicht weit, weil es sich nach jedem Satzteil so anfühlte, als hätte ich irgendeinen Blödsinn gesagt, der mein Gegenüber kränken könnte. Aber vielleicht lag das auch nur daran, dass ich selten wusste, wie ich mit anderen Menschen reden sollte, sobald ich diese auf etwas aufmerksam machte, beziehungsweise diese Menschen sich auf meine Gesten oder Fragen konzentrierten. Die junge Frau nickte aber als Antwort auf meine Frage und ich nahm schnell meinen Rucksack und den Schal von dem Sitz neben mir und stellte beides auf den Fußboden vor mir. Die braunhaarige Frau sah kurz zu mir und murmelte: "Danke...", bevor sie sich neben mich setzte und mich nicht mehr ansah. Und ich versuchte kaum mehr, mich zu fragen, warum sie mich wahrscheinlich total ungewollt verfolgte und warum sie mir so bekannt vorkam. Sie saß neben mir und spielte etwas nervös mit ihren Kopfhörern herum, da sie ihr Handy in ihrer Hand hielt, ihre dunkle Tasche auf den Fußboden vor ihre Füße gestellt hatte. Ich sah kurz nach unten und dann sah ich geradeaus, doch ich merkte, dass der Blick der Frau neben mir sich weiterhin nicht abwendete. Aber es kam mir immer noch nicht gruselig vor, sondern so, als wäre sie in irgendeinem Sinne interessiert an mir. Wobei ich damit nicht einmal meinte, dass sie sich gerade in mich verknallte oder sowas, denn dafür war ihr Blick viel zu auffällig und viel zu stechend. Es war irgendwas anderes. Und auch, wenn ihr Blick nur aus dem Augenwinkel zu kommen schien, da sie nach wie vor größtenteils geradeaus sah, merkte ich es. Und als sie sich nach mindestens einer Minute traute, mich wirklich aktiv anzusehen und es mir wirklich etwas unangenehm wurde, entschied ich mich dazu, auch zu ihr zu sehen. Ihr Blick traf meinen. Ihre blauen Augen trafen meine braunen.
Es war extrem leise zwischen uns. Und komischerweise fühlte es sich für mich so an, als wären nur wir in diesem Bus, der in dem Moment durch die Innenstadt fuhr und niemand sonst. Währenddessen wurde mir mein Blickkontakt zu der braunhaarigen Frau innerhalb von Millisekunden zu intensiv, sodass ich wegsah und mich kurz räuspern musste, um wieder klarzukommen. Schließlich fragte ich mich dann doch tatsächlich ein wenig, was das Ganze überhaupt war und warum mich diese junge Frau, die ich kaum seit einem Tag kannte, permanent ansah und dann auch noch so intensiv. Ich hatte schon vor einigen Minuten daran gedacht, dass sie sich wohl kaum in mich verknallte, schließlich war sie dazu viel zu auffällig und ich war mir sicher, dass sie irgendwas anderes dachte, ich sie an irgendwas anderes erinnern musste.
Ich sah aus dem Fenster und die Straßen der Innenstadt unserer Großstadt zogen vorbei. Dann nahm ich wahr, wie sich jemand zu meiner linken Seite räusperte und ich drehte mich langsam zu der jungen Frau mit den braunen Haaren um. Für eine Millisekunde wanderte ihr Blick vom Dach des Busses bis zum Fußboden und dann noch einmal quer durch ihr ganzes Sichtfeld, bis sie bei meinen Augen stehen blieb und dann erklärte: "Tut mir leid, dass ich Sie die ganze Zeit anstarre... Ich... Sie kamen mir schon die ganze Zeit von irgendwoher bekannt vor... und... ja...". Und während sie zum Anfang ihres Satzes noch selbstbewusst redete und ihren Blickkontakt zu mir nicht abbrach, ging sowohl ihr Selbstbewusstsein, als auch der Blickkontakt im Laufe des Satzes immer mehr verloren. So, als würde sie denken, dass ich ihr ihre Aussage nicht abkaufte, obwohl ich dies trotz ihrer Stammelei am Ende tat. Ich musste trotzdem für eine Sekunde verinnerlichen, was sie gesagt hatte. Sie kannte mich auch von irgendwo, ich kam ihr auch schon die ganze Zeit bekannt vor und ich deutete, dass sie mit ihrem Starren womöglich herausfinden wollte, woher genau ich ihr denn so bekannt vorkam.
"Ist okay...", begann ich, eine Antwort abzuliefern, zumal mir in dem Moment nichts Besseres einfiel. Mein Gegenüber nickte einmal kurz und ich stellte überrascht fest, dass ich ein wenig lächelte, obwohl ich selten in der Öffentlichkeit lächelte, vor allem nicht vor mir unbekannten jungen Frauen, die mich von irgendwo kannten. Aber mein Lächeln schien bei der Jüngeren ziemlich sichernd zu wirken, denn sie schaffte es gekonnt, weiterzureden, ihren Satz von davor weiterführen zu können: „Okay... Ich bin Elisabeth... ich studiere hier... so...", stellte sie sich knapp vor und ich konnte schon ab dem Moment, in dem sie mir ihren Namen nannte, merken, dass es nicht dabei bleiben würde, dass sie sagte, wer sie war und sie dann an der nächsten Station aussteigen würde. Dieses Mal war es ich, die nickte und schließlich meinte ich dann: „Okay, Elisabeth... Ich bin Masha...". Mir fiel erst im Nachhinein auf, dass ich es geschafft hatte, mich einfach so vorzustellen und das auch noch jemandem, mit dem ich nicht zusammenarbeitete und mit dem ich kein geschäftliches Verhältnis. Ich war mir darüber im Klaren, dass ich mich sonst auch nicht mit „Hallo, ich bin übrigens Frau Karminsky" vorstellte, aber dass ich jemand anderem einfach so meinen Vornamen verriet, war wirklich ein Wunder, welches, für ein Wunder typisch, selten vorkam.
Nach meiner Vorstellung, war es wieder mein Gegenüber, Elisabeth, die nickte, bevor eine der typischen Durchsagen im Bus unseren kleinen Dialog unterband. Die Haltestelle mit der Universität wurde von der monotonen Frauenstimme in dem Bus angesagt und es war mir irgendwie schon davor klar, dass ich nicht die einzige in meinem Umkreis war, die aufstehen und aussteigen würde. Insgesamt waren es aber trotzdem nur Elisabeth und ich.
Wir stiegen aus und der Bus fuhr davon. Draußen schien ganze auf einmal nicht mehr die Sonne, sondern es war bewölkt. Es war die Jahreszeit, in der sich das Wetter alle paar Stunden änderte.
„Ich studiere hier...", klärte mich Elisabeth nervös lächelnd darüber auf, warum sie bei der Universität ausgestiegen war und ich nickte, meinte einfach nur: „Ja... bei mir ist das schon ein paar Jährchen her...", und hoffte dabei, auf mein Gegenüber nicht total alt zu wirken. Aber Elisabeth lächelte, fragte dann aber: „Und... was macht du denn hier?" und nachdem ich mir das erste Mal wieder bewusst war, wie komisch es sich anfühlte, von einer fremden Person mit Du angesprochen zu werden, erklärte ich: „Ich geh' in die Bibliothek...", fügte dann noch während wir gingen hinzu: „Da war ich schon ziemlich lange nicht mehr... Keine Zeit und so".

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