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Masha Karminsky:

Wir betraten mein Wohnzimmer. In diesem Moment wirkte alles das erste Mal ziemlich stark auf mich. Ich wusste nicht, woran das lag. Aber dass es daran liegen könnte, dass Elisabeth direkt neben mir war und diese gesamte Situation mich einerseits ein bisschen überforderte, andererseits aber auch in meinem Herzen wehtat und mich selber ein bisschen mitnahm, konnte ich nicht ausschließen.
-"Du musst mir nicht sagen, was los ist... Aber wenn dir etwas eine solche Angst macht, dann...", meinte ich und seufzte, während wir uns auf mein Sofa setzten. Ich wollte nicht, dass Elisabeth sich zu etwas gedrängt fühlte, andererseits aber wollte ich wissen, warum sie eine so heftige Reaktion auf irgendwas hatte, was uns bei dem Spaziergang begegnet war. Und das erste Mal in meinem ganzen Leben hatte ich den Gedanken, dass ich wissen wollte, was mit ihr los war, um sie beruhigen und beschützen zu können. Denn mir mit ansehen zu müssen, wie sie fast die ganze Zeit lang weinte und nicht mehr aufhören konnte und dass die Tränen ununterbrochen auf den Boden tropften, während sie unregelmäßig atmete, stach ziemlich stark in meinem Herzen. Langsam sah ich zu der Person, die links neben mir saß und deren wunderschöne, tiefe blaugrüne Augen stark gerötet und von Tränen unterlaufen waren. Sie atmete hörbar ein und aus und schien zu versuchen, sich möglichst zusammenzureißen. Dabei hatte sie das nicht nötig. Und am liebsten hätte ich ihr den Glauben, sich vor mir möglichst gefasst und emotionslos verhalten zu müssen, direkt genommen, egal wie sehr es mir selber wehtat, dass sie weinte und immer noch Angst hatte. Aber bevor ich etwas sagen konnte, begann sie selber zu sprechen.
-"Es war zu viel auf einmal... Dann kommen Erinnerungen hoch und ich habe Angst", meinte sie ziemlich gefasst, doch ihre stark geröteten Augen verrieten die eigentliche Wahrheit. Ich nickte einfach nur, obwohl ich immer noch nicht ganz verstand, auf was genau ihre gesamte Reaktion bezogen war. Jedoch entschloss ich mich dazu, sie nicht dazu zu drängen, alles zu konkretisieren, denn neben dem Fakt, dass ich mir dann selber ziemlich herzlos vorkommen würde, sprach alles dafür, dass bei ihr eine schreckliche Erinnerung wiedergekehrt war. Und ihre Vergangenheit ging mich nichts an. Egal, wie sehr ich ihr gerne sagen würde, dass sie mit mir darüber reden kann, wenn sie wollte.
-"Es tut mir leid, wenn man das nicht nachvollziehen kann...", meinte Elisabeth dann mit einer deutlich weinerlichen Stimme und wandte ihren Blick von mir ab. Sie starrte auf den hölzernen Fußboden und dann an die Wand zu meinem Regal, welches voll gestellt mit dicken Büchern war. Die meisten davon hatte ich vor langer Zeit oder noch nie angerührt. Fast alle hatten mehr als 500 Seiten und waren auf bildungssprachlichem Russisch geschrieben. Erst, als ich den Blick der Person links neben mir auf mir spürte, merkte ich, dass diese vor einigen Sekunden etwas gesagt hatte. Ich seufzte tief und sagte dann einfach nur möglichst ruhig: "Ich weiß zwar nicht, um was es geht... Aber dass es Dinge gibt, vor denen man Angst hat, kann ich sehr gut nachvollziehen...". Elisabeth sah mich für einen Moment ungläubig an. Ich wusste nicht, warum, aber sie kam mir plötzlich ziemlich klein vor. Fast so, als wäre sie ein Kind und ich müsste sie trösten und auf sie aufpassen. Auch, wenn das zumindest für meinen Verstand kein Problem gewesen wäre, hätten mein Herz und meine emotionale Stärke das nach einiger Zeit nicht mehr mitgemacht. Elisabeth sah mir direkt in die Augen. Auch, wenn ihre blauen Augen auch mit Tränen und stark gerötet wie wunderschöne, tiefe Ozeane wirkten, sah an ihrem Blick in dem Moment alles so zerbrechlich aus, dass ich sie am liebsten sofort umarmt hätte. Aber ich wusste nicht, ob ich mir das erlauben konnte. Denn auch, wenn ich merkte, dass sie ziemlich viel Interesse an mir hatte, war sie in dieser Situation jetzt sicherlich immer noch nicht ganz beisammen. Und ich wusste nicht, wie sie darauf reagieren würde, würde ich sie jetzt einfach in meine Arme nehmen und sie beruhigend festhalten. Generell fragte ich mich im nächsten Moment, was das überhaupt war, was ich da gerade fühlte. Ich war ein introvertierter Mensch, der nicht gerne jemand anderes an sich heranließ. Ich mochte es nicht, wenn Menschen bei mir zu Hause waren und eigentlich mochte ich es schon gar nicht, wenn sich diese Menschen dann auch noch auf weniger als einen Meter näherten. Aber in diesem Moment war irgendetwas anders, dachte ich und spürte, wie sich mein Herzschlag ein wenig beschleunigte. Dafür hatte ich echt keine Erklärung. Und gleichzeitig merkte ich, wie immer noch Elisabeths ungläubiger Blick auf mir lag, der mich überhaupt so fühlen ließ, wie es in dem Moment war. Sonst hatte ich keinem Menschen gegenüber das Gefühl, aufzupassen und diese Person zu beschützen, geschweige denn, jemanden einfach in meine Arme zu nehmen und für jemanden da zu sein. Aber in diesem Moment war es wahrscheinlich genau das, was mich dazu veranlasste, meine linke Hand vorsichtig auf Elisabeths rechter Schulter zu platzieren und mit meinem Daumen beruhigend über ihren Oberarm zu streichen. Sie sah mich weiterhin an. Ihr Blick war aber nicht mehr so klein und verwirrt, sondern einerseits überrascht und andererseits das erste Mal, seitdem wir mein Haus betreten haben, irgendwie wieder neutral und fast schon entspannt. Sie atmete erneut tief durch, wobei ich hörte, dass die Gelenke in ihrem Oberkörper knackende Geräusche von sich gaben, weil sie sich davor so sehr verspannt hatte.
-"Danke...", meinte sie ehrlich auf meine Aussage bezogen und ich musste tatsächlich lächeln. Mein Blick traf wieder auf die blauen Augen meines Gegenübers und ich merkte, wie mein Lächeln stärker wurde, während ich gefühlt in den blauen Tiefen versank. Auch Elisabeth lächelte ganz kurz, was mich dann doch ein wenig überraschte. Ich sah sie an und ihr leichtes Lächeln, welches fast unmerklich ihre rosafarbenen Lippen zierte, blieb immer noch da. "Hey... Du lächelst ja...", bemerkte ich, ohne es wirklich zu wollen. Schließlich war es nicht auszuschließen, dass Elisabeth ähnlich war, wie ich und es hasste, wenn jemand alles kommentierte, was sie tat. Aber in dem Fall wusste ich schon im nächsten Moment, dass es nicht so war, denn leise flüsterte sie: "Ja... Ich...", begann sie, atmete dann aber wiederholt tief durch.
-"Danke, Masha...", murmelte sie leise und ich wusste nicht, auf was ihr Dank bezogen war, aber ich fühlte mich, als würde ich mit dem, was ich gerade tat, genau das Richtige tun. Und noch richtiger und wärmer fühlte sich das Ganze an, als ich merkte, wie Elisabeth sich vorsichtig an mich lehnte und ihren Kopf müde auf meiner linken Schulter ablegte. Ich war es nicht gewohnt, dass jemand mir so nahe kam, aber als wäre alles automatisch, legte ich meinen linken Arm um ihren oberen Rücken und merkte, wie sich ihr Körper an meinen legte. Ich spürte ihren Kopf auf meiner linken Schulter und ihre langen Haare, die ein wenig kitzelten. Ihr warmer, immer noch etwas unregelmäßiger Atem traf auf meinen Hals und ich merkte, wie sich ihr dünner Oberkörper vorsichtig an meine linke Seite legte. Nicht nur wegen der Tatsache, dass ich das letzte Mal vor über zehn Jahren eine solch enge Berührung mit jemandem hatte, war diese ganze Situation ein neues Gefühl. Dazu kam dieses gute, warme Gefühl, welches sich in meinem Körper verteilte und mein Lächeln, welches fast nicht mehr verschwinden wollte, egal, ob ich versuchte, es abzustellen.
Ich dachte weiter nach und ging innerlich weiter meinen ganzen Körper durch. Ich suchte nach weiteren Symptomen, die darauf hindeuteten, dass das Ganze mit Elisabeth mehr als nur eine nette Bekanntschaft war, die sich sehr speziell entwickelte. Und währenddessen merkte ich, wie die junge Frau, die ich mehr oder weniger im Arm hielt, immer müder wurde. Sie hatte schon vor einigen Sekunden leise gegähnt und auch ihr Atem war ruhiger und wieder gleichmäßiger geworden. Es war das allererste Mal in meinem gesamten Leben, dass jemand in meinen Armen einschlief. Überhaupt das erste Mal, dass jemand überhaupt so lange in meiner Nähe war und es dabei nicht bloß darum ging, direkt auf eine ganz andere Art und Weise körperlich zu werden. Das mochte zwar klingen, als wäre ich bis auf wenige Dates während meiner Abizeit und des Anfangs meines Studiums total einsam gewesen, aber andererseits war es für mich nun eine ganz andere Erfahrung. Und ich mochte es. Ich mochte es, einfach da zu sein, Elisabeth in meinen Armen zu halten und sie dabei zu beobachten, wie sie immer und immer mehr in einen erschöpften Tiefschlaf fiel.

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