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Masha Karminsky:

Wir gingen Hand in Hand die Straßen des kleinen Dorfes entlang. Dabei unterhielten wir uns über alles Mögliche, Elisabeth erzählte mir ziemlich viel von sich und auch davon, wie ihr Studium bis jetzt war. Schließlich kamen wir auf die Idee, miteinander Russisch zu sprechen, denn Elisabeth musste die Sprache für ihr Studium nahezu perfekt können. Ich war echt überrascht von ihrem Talent und davon, wie sie sprach, obwohl ich die ganze Zeit über lächeln musste, weil sie einen wahnsinnig niedlichen, aber dennoch minimalen deutschen Akzent hatte. Trotzdem wirkte es fast schon selbstverständlich, dass wir nicht auf Deutsch redeten.
Schließlich entdeckten wir ein kleines Café, welches an einer Straßenecke lag, hinter der sich eine weite Wiese erstreckte. Die gesamte Landschaft war malerisch, die norddeutsche Natur war einfach schön. Neben uns ging in diesem Moment die Sonne unter, verabschiedete sich mit starken, orangeroten Strahlen, die ästhetisch auf unsere Gesichter trafen hinter dem Horizont. Ich merkte, wie Elisabeth mich von der Seite anlächelte, während wir das kleine Café betraten. Es erinnerte mich ein wenig an das in unserer Heimatstadt, in dem Elisabeth und ich uns vor etwa drei Wochen das erste Mal so wirklich gesehen hatten. Mir wurde irgendwie sofort warm.
In dem Café roch es süßlich und nach Heimat, obwohl ich gar nicht wusste, ob Heimat überhaupt einen Geruch haben konnte. Auf jeden Fall war die gesamte Atmosphäre familiär und angenehm - man fühlte sich sofort aufgehoben.
-"Wollen wir uns an das Fenster setzen? Dann haben wir noch einen schönen Ausblick auf den Sonnenuntergang". Elisabeths Stimme riss mich ein wenig aus meinen Wahrnehmungen und Gedanken, aber ich nickte, meinte dann: "Klar, das ist doch wunderschön dann". Meine Satzstruktur war wirklich ein wenig durcheinander, musste ich in diesem Augenblick feststellen. Aber ob das daran lag, dass Elisabeths strahlend blaue Augen mir immer noch die Sprache verschlugen, oder ob der Grund nur war, dass wir uns eine halbe Stunde lang ausschließlich auf Russisch, meiner Muttersprache, unterhalten hatten, wusste ich auch nicht.
Wir setzten uns gegenüber voneinander an den kleinen Tisch am Fenster. Ich zog meine Jacke aus, behielt meinen Schal und meine Mütze jedoch an, schließlich war es wirklich kalt, obwohl schon April war. Aber das Aprilwetter machte nun einmal, was es wollte. Dann galt mein Blick wieder Elisabeth, die in diesem Moment ebenfalls ihre Jacke auszog. Sie trug darunter einen hellgrauen Pullover mit einem leichten Ausschnitt und ich wunderte mich, wie ihr darin nicht kalt wurde. Nachdem sie ihre dunkelgraue Jacke ausgezogen und ihre beiden Hände auf dem Tisch abgelegt hatte, sah ich in die Augen. Eine Sekunde später legte ich meine Hände vorsichtig auf ihre und fragte dann mit behutsamer Stimme: "Ist dir gar nicht kalt?". Elisabeth lachte kurz und nahm meine Hände schließlich in ihre. Dieses Gefühl war immer noch viel zu gut.
-"Nein... Tatsächlich nicht...", meinte sie kichernd, fuhr dann etwas ernster, aber trotzdem mit einem Lächeln im Gesicht fort: "Du klingst irgendwie... Ja, ich weiß auch nicht...". Dabei biss sie sich kurz nachdenklich auf die Unterlippe, hielt dabei meine Hände aber immer noch bewusst in ihren. Ich musste auch lächeln.
"Als wäre ich deine Mutter oder so?", schloss ich den Satz leicht kichernd. Und ich dachte eigentlich, dass Elisabeth ebenfalls ein niedliches Kichern von sich geben und mich dabei mit ihren blauen Augen anstrahlen würde, aber das war nicht der Fall. Ihr Blick wurde plötzlich ernst und starr, ihr Griff um meine Hände wurde ziemlich stark und es wirkte, als wolle sie sich an mir festhalten. In ihren Augen sah ich Spuren von Hilflosigkeit und Anspannung. Was hatte ich getan? Was hatte ich falsches gesagt oder gefragt?
Im nächsten Moment unterbrach die Bedienung, eine ältere Dame, die Stille. "Haben Sie schon eine Bestellung?", fragte sie freundlich, sie erinnerte mich alleine schon von ihrer Art her ein wenig an Anne, die in dem Café in meiner Heimatstadt arbeitete. Auch das Aussehen passte ein wenig, obwohl diese Frau mindestens zehn Jahre älter war, als Anne.
Elisabeth bestellte sich einen Kaffee, ich mir einen grünen Tee. Ich hatte den Eindruck, dass mir Kaffee in letzter Zeit nicht besonders guttat, keine Ahnung, warum. Und nachdem die Bedienung mit einem Lächeln im Gesicht wieder von unserem Tisch verschwunden war, sah ich Elisabeth tief in die Augen.
"Du siehst irgendwie traurig aus... Ist etwas?", fragte ich flüsternd und nachdem Elisabeth mich mehrere Sekunden lang ohne eine Emotion in ihrem Gesicht angestarrt hatten, begann sie, zu reden.
-"K-Keine Ahnung... Ich glaube, dass mich das, was du eben gesagt hast... Das mit der Mutter... I-Ich glaube, es hat mich in etwas zurückversetzt... Tut mir leid, dass ich so reagiere...", stotterte Elisabeth und griff wieder nach meinen Händen. Ich sah in die Augen der jüngeren Frau, die mich konfus ansah. Ich musste seufzen und nickte verständnisvoll. "Das ist in Ordnung...", meinte ich einfach und Elisabeths Gesichtsausdruck neutralisierte sich wieder ein wenig - auch hielt sie sich nicht mehr so stark an meinen Händen fest, sondern hatte nur noch ganz sanft ihre Finger auf meinen Handrücken platziert.
-"Ich glaube, irgendwann schulde ich dir eine Erklärung dafür...", sagte sie kurz darauf und gerade in dem Moment, in welchem ich meinen Kopf schüttelte und dazu ansetzen wollte, zu sagen, dass sie mir nichts schuldete, unterbrach sie mich schon. "Masha, wirklich... Das...", sie brach kurz ab und atmete tief durch, bevor sie weiter redete und flüsterte: "Das würde dann auch den Ursprung meiner Ängste und Flashbacks erklären". Ich versuchte, Elisabeth daraufhin möglichst aufbauend anzulächeln.
"Okay... Aber du musst entscheiden, wann der richtige Moment für dich ist... Ich will dich nicht dazu drängen, denn das Ganze scheint ein ziemlich emotionales Thema für dich zu sein". Die junge Frau mir gegenüber nickte nur als Antwort auf diese Worte. Und als im nächsten Moment schon die Bedienung mit unseren Tassen um die Ecke kam, lösten Elisabeth und ich auch unsere Hände voneinander und sahen erwartungsvoll zu der älteren Dame. Diese lächelte uns freundlich an.
Während draußen die Sonne nun vollständig verschwand, saßen Elisabeth und ich dort, in diesem winzigen Kaffee und redeten fast gar nicht. Es herrschte aber auch keine seltsame Stimmung mehr zwischen uns. Vielmehr war es das Genießen der Stille, der Atmosphäre und trotzdem auch dem Fühlen der Zweisamkeit. Immer wieder lächelten Elisabeth und ich uns an - diese Geste erwärmte meinen Oberkörper zusätzlich zu dem heißen Tee noch mehr. Es war wunderschön, mit ihr in diesem Café zu sitzen und so wenige Worte zu reden, sich trotzdem aber nicht komisch oder einsam fühlen zu müssen. Nebenbei beobachteten wir die Sonne dabei, wie sie vollkommen hinter dem Horizont verschwand und die Wiese draußen wie ein schwarzes, beinahe endloses Nichts wirkte. Es dämmerte, draußen leuchteten die Straßenlaternen und allgemein glich die Atmosphäre derer eines perfekt gestalteten Bildes oder Films. Kein Moment auf dieser Welt konnte so ästhetisch und angenehm sein, wie dieser hier.

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