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(Danke für die 900 reads ✨💜)

Elisabeth Karlsson:

Am Morgen regnete es ein wenig, ich machte mich auf den Weg zur Universität. Nach meinem Abschied von Masha am gestrigen Abend fühlte ich mich irgendwie seltsam - in einem negativen Sinne. Ich vermisste plötzlich nämlich nicht nur ihre Berührungen, ihre erstaunlich wunderbaren Küsse und ihre allgemeine Präsenz, sondern hatte auch den Eindruck, dass die Nachricht, die sie erhalten hatte, ihr ziemlich zusetzte. Vermutlich konnte ich das aber einfach nicht nachvollziehen, da ich noch nicht arbeitete.
Meine erste Vorlesung war um viertel vor neun - es war der sprachliche Kurs, für den ich in den Semesterferien so viel gelernt hatte. Auch, wenn ich gerne neue Dinge lernte und mir das Einprägen von neuen Wörtern heutig sehr leicht fiel, war es manchmal ziemlich schwer, die vielen Sprachen auseinanderzuhalten und jede einzelne sofort erkennen zu können. Vor allem russische Wörter waren mit weißrussischen und ukrainischen Wörtern häufig nahezu oder vollkommen identisch - damit tat ich mich leider oft ziemlich schwer.
Es war ein kalter Apriltag und ich versuchte auf dem Weg zur Universität durchzuhalten, sodass die Erinnerungen an den Unfall nicht in meine Gedanken zurückkehrten. An dem Tag, diesem einen, schrecklichen Tag vor zehn Jahren, war es ebenso kühl und ein bisschen neblig und regnerisch. Das Verbot, welches ich selbst aufgestellt hatte, wurde von meinem Unterbewusstsein nicht lange beachtet. Es kramte viele Erinnerungen an diesen Tag heraus, auch, wenn ich von diesen eigentlich nichts wissen wollte. Trotzdem dachte ich plötzlich an Urlaub mit meiner Familie, einen kalten Morgen, glatte Straßen, Regen, einen lauten Knall, den Geruch von Abgasen und dröhnende Stille, überfüllte Leere. Alles, was keinen Sinn ergab.
Ich spürte, wie ich Schwierigkeiten beim Atmen bekam, als ich die Treppenstufen zum Seminarraum hinaufging. Diese Gedanken taten mir eindeutig nicht gut, vor allem nicht jetzt, wo ich mich voll und ganz auf mein Lernen konzentrieren musste.
Der Raum war bereits gut besetzt, ich setzte mich, wie immer schon, ganz nach vorne. Ich konnte es nicht ab, wenn ganze Reihen von Menschen vor mir saßen und ich hinten unterzugehen drohte, andersherum spürte ich vorne die Blicke der anderen Menschen in meinem Rücken, trotzdem war es nicht so schlimm, wie hinten sitzen. Der Raum füllte sich immer mehr, ich packte meine Federtasche und ein paar Bücher aus - bereit, für die Seminare den sprachlichen Bereich betreffend.
Ich nahm wahr, wie sich die Tür öffnete und zwei Personen durch diese gingen, achtete aber nicht darauf, um wen es sich handelte. Es mussten der mir schon relativ vertraute Slawistikdozent Herr Xavier und wieder irgendeine neue Dozentin oder eine Praktikantin sein, die neu an der Universität war. Jedenfalls sah ich vorerst nicht zu ihnen, bemerkte, wie Herr Xavier, ein eher junger Mann mit braunen Haaren und Brille, sich an den Tisch ganz vorne setzte, die andere Person sich nach hinten setzte. Erst, als Herr Xavier mit seinen einleitenden Worten zum neuen Semester begann, sah ich zu dem gepflegten jungen Mann auf. Er redete über die Themenbereiche und die anstehenden Klausuren. Erst, als er zu dem Punkt überging, an dem er die Frau, die ich nur aus dem Augenwinkel gesehen hatte, welche mit ihm den Raum betrat, vorstellte, hörte ich so wirklich hin. Das war auch nötig.
-"Ich möchte Ihnen jetzt noch eine neue Dozentin vorstellen, die uns in den nächsten Wochen in diesem Seminar begleiten wird...". Herr Xavier deutete nach hinten und langsam drehte ich mich um. Dann bekam ich keine Bewegung mehr zustande und vergaß das Atmen vollkommen. Denn ganz am Ende des Raumes saß niemand geringeres, als Masha und sah sich freudig in der Runde um. Ich konnte keinen Gedanken zustande bringen,
-"Das ist Masha Karminsky". Ich wusste schon länger, wie sie hieß, trotzdem war es mehr als nur seltsam, ihren Namen aus Herrn Xaviers Mund zu hören. Es war mir nicht mehr möglich, klar zu denken. In meinem Kopf war ein Chaos - Masha, die Frau, der ich vor nicht einmal einem Tag meine Liebe gestanden hatte, war nun die Assistentin meines Dozenten.
Das schrecklichste Gefühl, was man nur haben konnte, kam mir immer und immer wieder in den Kopf und durchfuhr anschließend mein Herz. Egal, wie oft ich Masha ansah und jedes Detail, ihr Outfit und ihre feinen rostbraunen Haare musterte, es wurde nicht besser. Eher wurde es schlimmer, vor allem dann, wenn sie mich auch ansah und in ihrem Blick ein trauriges, entschuldigendes Etwas aufblitzte. Mein Herz fühlte sich schwer und leer an. Dabei hätte ich etwas in der Art, wie es jetzt war, schon erahnen können.
Die ganzen zwei Stunden über versuchte ich alles, um meine Aufmerksamkeit und nicht einmal meine Gedanken auf Masha zu richten, aber es funktionierte nie für besonders lange Zeit - warum auch? Ihr Anwesenheit in diesem Moment und der Fakt, dass sie nun scheinbar so etwas wie eine Assistentin in den Vorlesungen und Seminaren von Herrn Xavier war, brachten meine Gefühle und Gedanken vollkommen durcheinander. Ich hielt es nicht aus, länger als zehn Minuten lang so zu tun, als wäre nichts, bis ich wieder einknickte, mich umdrehte und in Mashas kühles Gesicht, welches in diesem Augenblick keinen Ausdruck hatte, starrte.
Verdammt, ich wollte, dass es vorbei ist. Und so schrieb ich während des Seminars kaum etwas mit, konnte mich nicht auf unsere Aufgaben und Diskussionen im Plenum konzentrieren und sah immer wieder zu Masha. Ihr Blick lag aber nur ein einziges Mal auf mir und zeigte dabei keinen Schimmer von Emotion. Es war nur sichtbar, dass sie überrascht war, als sie diesen Raum betreten hatte und mich erblickte, mehr aber nicht.
Kurz nach vor 12 Uhr war unser Seminar vorbei und ich wollte einfach nur noch weg. Es mochte sicherlich nicht gerade zielführend oder realistisch sein, aber ich wollte einfach nur weg von der Uni und nicht an Masha denken, als ich mich in den Bus setzte.
Bedeutete der Fakt, dass ich sie nun mehr oder weniger in einem geschäftlichen Rahmen mit ihr zu tun hatte, dass wir unsere Gefühle, die wir uns einander gerade erst gestanden hatten, schnell aus unseren Gedanken streichen und vergessen sollten. Ich wollte das nämlich nicht. Ich wollte Masha nicht direkt wieder ignorieren, ausblenden oder gar vergessen, denn das konnte ich auch gar nicht. Es tat weh, daran überhaupt zu denken und ich musste mich in diesem Moment, in dem ich zurück nach Hause ging, zusammenreißen, nicht zu weinen. Die Tränen waren auch keine Lösung des Problems. Ich wusste gar nicht, wie es weitergehen sollte. Ich könnte Masha später schreiben oder sie anrufen, dachte ich, aber ich wusste nicht, ob sie antworten oder mich nun ignorieren würde und der Gedanke stach und meinem Herzen.

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