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(↱ Das Bild ist aus dem Musikvideo von »Tout L'univers«)

Elisabeth Karlsson

*Vor 10 Jahren*

Schmerzen durchzogen mich, als ich auf einem harten, rauen, nassen Untergrund aufwachte.
Ich spürte nichts, außer diese schrecklichen Schmerzen, die insbesondere in meinem Kopf, meinem Rücken und in meiner rechten Hand stachen und brannten.
Sonst merkte ich nichts und ich trotzdem hätte ich schreien können. Vor Angst und Schmerz.
Die ganze Zeit über wechselten sich die Bilder der Realität ständig mit den Gespinsten meiner Gedanken ab, machten es mir schwer möglich, wach zu bleiben, bei Bewusstsein zu bleiben.
Ich konnte Qualm riechen und den stechenden Schmerz in meinem Rücken und meiner rechten Hand fühlen, sowie das drückende Brummen in meinem Kopf. An meinen Händen spürte ich, wie das Blut der Wunden auf den Asphalt tropfte, aber meine Augen öffnen konnte ich noch nicht, dazu war ich noch zu schwach.
Ich hatte kein Gefühl von Zeit. Alles um mich herum war weiß und schwarz und farblos zur selben Zeit. Immer wieder von Lichtfäden und Schatten, von dunklen Strängen durchzogen, die einem riesigen Spinnennetz glichen. Und das erste Mal schaffte ich es, vorsichtig meine Augen zu öffnen. Hätte ich das bloß nicht getan.
Ich sah, wo ich mich befand. Ich bekam Angst, schreckliche Angst, die mir stechend in den Knochen wehtat. Fast schlimmer, als das qualvolle, beißende Stechen in meiner Hand und meinem Rücken. Ich wollte mich aufrichten, aber die Schmerzen ließen es nicht zu. Ich hatte Angst, die schlimmste Angst, die ich jemals in meinem Leben gehabt hatte. Echte Todesangst.
Mein Kopf fiel seitlich auf den kalten, nassen Asphalt und ich hatte Schwierigkeiten damit, meine Augen offen zu halten und gleichzeitig vor Angst und Schmerzen nicht aufzuschreien. Ich hatte so eine schreckliche Angst und solche schlimme körperliche und seelische Schmerzen. Die auch nicht besser wurden, als sich meine Sicht schärfte und ich ein brennendes Objekt am Straßenrand der verlassenen Landstraße entdeckte.
Es war das Auto meiner Familie, welches dort mit den Reifen nach oben gerichtet, vollkommen demoliert lag und in Flammen aufging, während viele Teile des Autohecks und unserer Sachen auf der ganzen Straße verteilt lagen. Dann schloss ich meine Augen wieder, weil ich kaum die Kraft hatte, diese offen zu halten. Und mir tat alles weh. Nicht nur die Körperteile, die von diesen stechenden Schmerz durchzogen wurden, sondern auch mein Inneres, meine Seele tat irgendwie weh. Denn ich wusste irgendwie, meine Familie hatte den Unfall nicht überlebt.
Eine gefühlte Ewigkeit später nahm ich gedämpfte Geräusche wahr. Mehrere Menschen. Oder vielleicht doch nur eine einzige Person?
Ich bekam mit, wie jemand auf mich zu rannte, mich wahrscheinlich von dem kalten Asphalt kratzen wollte. Vielleicht war es auch einer der Sanitäter, die bei solch einem Unfall kamen. Wäre es einer, dann würden in ein paar Stunden immerhin meine Schmerzen aufhören. Oder es war irgendjemand anderes?
Erkennen konnte ich nichts, denn der Schmerz in meinem Rücken, meinem Koof und in meinen beiden Armen lähmte mich ein wenig und meine Augenlider waren viel zu schwer, um sich zu öffnen und das Geschehen um mich herum betrachten zu können. Ich nahm nur wahr, wie sich jemand neben mich fallen ließ, wahrscheinlich kniete und dann vorsichtig über meinen Kopf strich, als wüsste diese Person, dass ich extreme Kopfschmerzen hatte. Ich merkte, dass sie oder er versuchte, mit mir zu reden, aber zu mir drangen nur gedämpfte Geräusche heran und das letzte, was ich merkte, war, wie diese Person mich vorsichtig an den Armen packte und meinen Kopf und Nackenbereich auf den Schoß zog, die Hände beruhigend auf meine Schultern legte und etwas vor sich hin murmelte. Aber verstehen konnte ich das nicht, alle meine Sinne, außer das Fühlen, waren komplett eingeschränkt.
Immer wieder schien ich bewusstlos geworden zu sein, denn in dem Moment, in dem ich wieder aufwachte, aber nur mühsam und immer wieder kurz meine Augen öffnen konnte, bemerkte ich entferntes Sirenengeheul. Ich lag mit meinem Kopf immer noch auf dem Schoß dieser Person, die ihre eine Hand beruhigend auf meine schmerzende Stirn gelegt hatte, mit der anderen meine von brennenden Wunden gesäte rechte Hand festhielt. Dann war ich weg.
Der nächste Moment in dem ich aufwachte, war ganz wo anders. Nichts mehr von dem grauen Asphalt war da, nichts mehr von dieser Person, die mich beruhigt und sich um mich gekümmert hatte. Nur noch grelle, weiße Lichter in einem ebenso weißen Raum, in dem sich nicht viel zu befinden schien. Ich konnte meine Augen zwar wieder öffnen, aber besonders helfen tat es mir auch nicht. Ich wusste sowieso, dass ich im Krankenhaus war. Ich hatte einen Unfall gehabt.
Und in dem Moment, in dem mir mitgeteilt wurde, dass meine Eltern und meine Schwester gestorben waren, brach nicht nur meine ganze Kindheit und meine ganze Welt zusammen, sondern auch das Gefühl von Sicherheit. Und ich schwor mir selber, dass ich niemals wieder in ein Fahrzeug steigen würde, über dass ich nicht die volle Kontrolle habe.

Zehn Jahre später saß ich in einem Bus, der durch die Innenstadt fuhr und erinnerte mich an das schrecklich einschneidende Erlebnis meiner Kindheit zurück. Eigentlich war es schon fast wieder ironisch, dass ich wieder den selben Gedanken von früher, dass ich „nie wieder in ein Fahrzeug steigen würde, über das ich nicht die volle Kontrolle habe" dachte, obwohl ich in einem großen Linienbus saß, der nicht von mir selber gefahren wurde. Mittlerweile war die Erinnerung an den Unfall zwar immer noch oft da, aber fast schon normal geworden, obwohl es ganz und garnicht normal ist, wenn man in einem Alter von gerade einmal zehn Jahren seine ganze Familie bei einem Autounfall im Winterurlaub in Schweden verliert. Aber der Gedanke daran besucht mich schon seit Jahren so oft am Tag, dass es mir fast schon egal ist, ob ich darüber nachdenke, oder nicht und ob ich versuche, den Gedanken abzuwehren, oder nicht.
Dann erklang kurz ein Ton von meinem Handy, riss mich aus meinen Gedanken und Erinnerungen, die ich davor bestimmt zehn Minuten lang in meinem Gehirn hatte ablaufen lassen und ich sah auf den Bildschirm meines kleinen schwarzen Handys. Mir war schon im vornherein klar, dass es Jonathan war, der mir schrieb. Schließlich war ich keine besonders pünktliche Person, auch nicht, wenn ich einfach nur mit Freunden zum Kaffee trinken verabredet war.
»Bist du schon losgefahren?
Anna und ich sind schon da«
Hatte mein bester Freund geschrieben. Ich kannte Jonathan seit der Grundschule, weil wir dort beide ziemliche Außenseiter waren. Ich, weil ich schon immer emotional und nachdenklich, beinahe philosophisch und gleichzeitig interessiert an so vielen Dingen gleichzeitig war und er, weil er nicht an Fußball und Mädchen ärgern interessiert war, wie die anderen Jungs, sondern schon in der zweiten Klasse die Pausen damit verbrachte, dicke Bücher über Astronomie und Physik zu lesen. Und irgendwann in der dritten Klasse wurden wir dann im Klassenraum zusammen ganz nach vorne gesetzt, damit wir uns mehr am Unterricht beteiligen würden und irgendwie hatten wir dann angefangen, Freunde zu sein. An der weiterführenden Schule waren wir auch zusammen in einer Klasse, bis auf die letzten Jahre vor dem Abi, weil er die Schule wechseln musste. Aber seine jüngere Schwester Anna war der Schule geblieben, wenn auch zwei Jahrgänge unter mir. Und ich war froh darüber, dass sie und Jonathan immer noch mit mir befreundet waren. Und, dass wir uns zum Kaffee trinken trafen, um der Lernphase am Ende des Sommersemesters im März ein bisschen Abwechslung zu bieten.
Der Bus hielt an der Fußgängerzone der Stadt und ich stieg schnell aus. Das Café, in dem wir uns zu dritt treffen wollten, lag nicht weit entfernt mitten in dieser von vielen Läden besetzten Fußgängerzone. Mein Handy ließ ich, inklusive meiner Kopfhörer in meiner Jackentasche verschwinden, denn es hätte sich nicht gelohnt, für die zwei Minuten Fußweg bis zum Café Musik zu hören.
Als ich das Café betrat, bemerkte ich bereits Jonathan und Anna, die schon an einem Tisch am Fenster saßen und redeten. Als sie mich bemerkten, folgte eine kurze, aber freundschaftliche Begrüßung und ich setzte mich auf die beige Lederbank am Fenster. Jonathan und seine Schwester saßen mir gegenüber. Ich bestellte mir, ebenfalls wie Jonathan einen Kaffee mit viel Milch und wenig Zucker, Anna bestellte sich noch einen Tee. Sie trank schließlich immer Tee und ich fand, dass nichts besser zu ihrer Persönlichkeit passte. Sie laß sehr viel, war, auch wenn sie erst in der 11. Klasse war, oft in der Bibliothek der Stadt und sie saß in Cafés wie diesem und trank Tee.
Wir redeten über alles mögliche und ich musste zugeben, dass mein bester Freund und seine Schwester, mit der ich mich auch gut verstand mich gut von meinen Gedanken an das Lernen für die Klausur in der nächsten Woche ablenkte. Jonathan erzählte von seinem Physikstudium und seinen Kommilitonen und Anna erzählte von ihrem Wirtschaftspraktikum, welches ich auch in der 11. Klasse gemacht hatte. Sie erzählte davon, wie es war, hinter die wirtschaftlichen und finanziellen Kulissen der Universitätsbibliothek zu sehen und sich dort die Arbeit mit anzusehen, während ich mich an mein Praktikum in der 11. Klasse erinnerte.
Wir unterhielten uns über alles mögliche, über die Schulzeit, über die Lehrer damals und andere Sachen.
Es war gut, mal mit anderen Menschen, mit Freunden, zu reden.

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