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Masha Karminsky:

Es tat ziemlich weh, Elisabeth mehr oder weniger rauszuwerfen, obwohl diese Idee mehr oder weniger von ihr aus kam. Sie hatte mich gefragt, ob ich jetzt erst einmal meine Ruhe brauchte und ich hatte bejaht. Danach war sie gegangen - zum Abschied hatte sie mich einmal ganz kurz, ganz vorsichtig geküsst, danach war sie aber weg. Und ich blieb nachdenklich und mit einem seltsamen Gefühl in meinem Körper zurück.
Um kurz nach 18 Uhr saß ich auf meinem Sofa und starrte die Wand mit den Bücherregalen an. Ich hatte nun einen Job weniger, ich verdiente nicht mehr die ursprünglichen 3500 €, sondern nur noch ein bisschen mehr als die Hälfte davon im Monat. Es war immer noch genug zum Leben, aber es belastete mich. Jetzt war meine Arbeitsstelle wieder das Institut der Universität und nicht mehr mein Schreibtisch, an dem ich entspannt und isoliert von der Außenwelt stundenlang wissenschaftliche Artikel schrieb. Und was mir in diesem Moment besonders das Herz brach war, dass ich genau genommen nun in derselben Institution wie Elisabeth beschäftigt war. Sie lernte an der Universität und ich forschte dort als Historikerin und Slawistin. Wir standen uns beruflich also enger, als wir es eigentlich wollten und sofort schoss mir die Frage in den Kopf, ob das, was zwischen uns war, dann überhaupt erlaubt war. Mir war zwar klar, dass sie schon älter als 18 war und dass allgemein zwischen uns ein Altersunterschied von nur 16 Jahren bestand, aber ob eine Beziehung oder irgendetwas Ähnliches, was da zwischen uns war, überhaupt legal war, wusste ich nicht genau. Es kamen Szenarien in meinen Kopf. Wenn es ein Problem darstellte, dann wäre ich auch ganz schnell meinen zweiten Job los, dachte ich und bekam wirklich Angst. Dann würde ich mit nichts dasitzen. Mit nichts.
Aufgrund meiner schrecklichen Gedanken beschloss ich, noch an diesem Abend Bewerbungen an andere Verlage zu schreiben und mich mental auf meinen Job in der Forschung vorzubereiten.

***

Am nächsten Tag wachte ich ziemlich früh auf. Schon vor meinem Wecker, der ab nun täglich um 7 Uhr morgens ging. Wahrscheinlich war ich einfach unfassbar nervös, weil ich das erste Mal wieder direkt zum Institut gehen und dort arbeiten würde. Vorher hatte ich nämlich alles der Einfachheit halber von zu Hause aus gemacht, nun muss ich wieder in mein Büro in dem großen Gebäude neben der Universität gehen. Ich hatte wirklich ein wenig Angst davor, wie komisch es sein könnte, wenn ich wieder dort in Präsenz auftauchen würde. Häufig konnte ich nicht besonders gut mich Menschen und ich hatte Angst, dass das zu einem Problem werden könnte.
Also stand ich mit klopfendem Herzen vor meinem Badezimmerspiegel und betrachtete mich ganz genau. Meine Haare hatte ich mit einer Klammer zusammengesteckt, sonst sahen sie viel zu wild aus. Die ganze Zeit über musste ich tief durchatmen, um keine Angst zu bekommen. Noch war es nämlich nur extreme Nervosität - jedoch schlug diese schnell mal sehr gerne in wirkliche Angst um.
In dem weinroten Hemd und dem langen, schwarzen Rock sah ich seriös aus. Ich hatte mir eine goldene Kette um den Hals gelegt und auch, wenn ich eigentlich kein Make-up trug, ein wenig Mascara auf meine Wimpern gemacht. Ein schreckliches Gefühl des Perfektionismus sagte mir, dass ich erst aus dem Haus gehen solle, wenn ich perfekt aussah. Ich wusste allerdings, dass ich dieses Ziel wohl kaum erreichen würde.
Um kurz nach acht Uhr morgens stand ich an der Bushaltestelle, die sich eine Straße von meinem Haus entfernt befand. Ich fuhr immer mit dem Bus, wirklich immer. Der Grund dafür war hart, lag schwer in meinem Herzen, obwohl er schon zehn Jahre zurücklag. Aber ich wollte nicht daran denken, hatte das Ereignis immer verdrängt und war seitdem nur einige Male mit meinem Auto gefahren. Mittlerweile stand es eingestaubt und sicherlich schon etwas verrostet in der Garage. Ich hatte kein körperliches Problem damit, zu fahren, aber jedes Mal, wenn ich an dem Steuer eines Autos saß und fuhr, kam in mir die Panik hoch. Erinnerungen schossen durch meinen Kopf und brachten ein unangenehmes Zittern in meine Hände, mir wurde sofort schwindelig, weil ich zurückdenken musste.
Ich hatte nie einen Unfall verursacht, war für nichts Schlimmes verantwortlich. Aber ich hatte einen Unfall mitbekommen - tote Menschen in einem ausgebrannten Auto gesehen und mich fast eine Stunde lang um die einzige Überlebende, ein kleines Mädchen, gekümmert. Damals war ich erst 25 Jahre alt und musste eigentlich schnell nach Hause. Aber nun war diese Erinnerung auch noch zehn Jahre später in meinem Kopf und löste aus, dass ich Angst vor dem Autofahren hatte. Nicht, weil ich mich davor fürchtete, selbst in einen solchen Unfall zu geraten. Sondern einfach, weil mich das Gefühl dessen, in einem Auto zu sitzen, das Lenkrad in meinen Händen zu halten und auf die Straße zu sehen, zu sehr an damals erinnerte. Vor meinem inneren Auge kam dann sofort die einsame Landstraße irgendwo im Nirgendwo, das brennende Auto und das schwer verletzte, stark unterkühlte Mädchen, welches auf der Straße lag.
Und deswegen fuhr ich schon seit mittlerweile zehn Jahren nur noch in Notfällen mit dem Auto und seit fünf Jahren ausschließlich mit dem Bus.
An der Universität angekommen fühlte ich mich in die Zeit zurückversetzt, in der ich selbst dort studiert habe. Ich hatte vor etwa zwei Jahren schon einmal dort gearbeitet, in der Forschung an alten Artefakten und Überbleibseln der Menschheit von vor über 1000 Jahren. In der letzten Zeit arbeitete ich was das Institut betraf von zu Hause aus - so hatte ich auch keinen Kontakt mit den Mitarbeitern dort. Keinen Kontakt mit anderen Menschen.
Als ich die Treppen zum Gebäude des Instituts hinaufging, schlug mein Herz doppelt so schnell, wie schon in dem Moment, in dem ich an der Bushaltestelle stand und nervös wartete. Welche Bemerkungen würden kommen, wenn ich mich erst zur Anmeldung im Büro der Leitung und dann bei meinem eigentlichen Team blicken lasse? Ich wollte daran nicht denken.
Nervös klopfte ich an der Tür des Büros, in dem Selina Sommer, die Leitung der historischen Abteilung des Instituts saß. Sie wusste, dass ich heute kam - ich hatte ihr am gestrigen Abend eine E-Mail geschrieben. Trotzdem konnte ich mich vor Anspannung kaum beruhigen und musste mehrmals tief durchatmen, als ich hörte, wie jemand zur Tür ging.
-"Hallo, Frau Karminsky", begrüßte mich Frau Sommer fröhlich und gab mir die Hand. Ich war ein bisschen überfordert, lächelte dann aber auch und schüttelte ihre Hand, bevor ich mit in das große Büro kam und mich der mittelalten Frau mit den langen dunkelblonden Haaren gegenübersetzte. Es war still und mein Herz klopfte vor Nervosität so laut, dass ich befürchtete, man könnte es hören. Deswegen war ich froh, als Frau Sommer nach dem kurzen Sortieren ihrer Unterlagen zu sprechen begann.
-"Es freut mich sehr, dass Sie wieder hier sind, Frau Karminsky... Wir haben Sie manchmal ziemlich vermisst", erzählte Frau Sommer mit einem Lächeln auf den Lippen. Ich konnte mir das kaum vorstellen - ich war nicht der typische Mensch, den man vermisste. Vor allem nicht als Arbeitskollegin. Trotzdem zwang ich mich zu einem vorsichtigen Lächeln und nickte kurz.
"I-Ich Sie manchmal auch... Also das gesamte Institut", meinte ich mit leicht zitternder Stimme.
-"Dann ist es ja für alle schön, dass Sie jetzt wieder hier sind", sagte sie und sah mich kurz prüfend an. Ich bekam Angst, aber Frau Sommer lächelte: "Sie müssen auch nicht nervös sein... Wir freuen uns, dass Sie wieder da sind". Ich fragte mich wirklich, ob sie das ernst meinte.
Nach ein paar organisatorischen Fragen erklärte Frau Sommer mir, dass das Forschungsteam im slawistischen Bereich zu der Zeit gut besetzt war, in der historischen Forschung allerdings viele Plätze frei waren und außerdem auch Dozenten gesucht wurden. Ich nahm erst einmal alles so hin und bejahte jede Anfrage für Dinge, die ich übernehmen könnte. Ich musste arbeiten - ich musste Geld verdienen.
Dass Elisabeth auch an dieser Universität war und wir nun mehr oder weniger ein berufliches Verhältnis hatten, sobald ich den Boden der Universität betrat, kam mir erst viel zu spät in den Kopf.

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