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Elisabeth Karlsson:

Zu Hause konnte ich über nichts anderes mehr nachdenken, als über die Umarmung, die zwischen Masha und mir stattgefunden hatte. Generell fragte ich mich, was mich in dem Augenblick dazu bewogen hat, einfach zu fragen, ob ich sie zum Abschied umarmen dürfte und dies dann auch zu tun. In dieser gesamten Bewegung steckten aber so unendlich viele kleine Details drin. Wie sie mich bei sich hielt und ihre Hand schützend auf meinen Kopf legte, war ein schönes Gefühl, welches mir einen so unbeschreiblichen Eindruck von Wärme und Sicherheit vermittelte, dass es mich fast schon triggerte. Es erinnerte mich daran, wie ich nach dem Unfall meiner Familie alleine und verletzt auf der Straße lag und erst nach gefühlten Stunden diese eine Person vorbeikam und sich um mich kümmerte, mich festhielt, mir Wärme gab. Und genau dieses Gefühl hatte ich auch, als Masha mich beschützend in ihren Armen hielt.
Mittlerweile saß ich aber wieder zu Hause. Mit Anna hatte ich schon kurz telefoniert und mich gefühlt tausendmal entschuldigt, dass ich einfach nicht rangegangen war. Ich log und erzählte, ich hätte viel zu tun und in dem Augenblick keine Zeit zum Telefonieren gehabt. Sie sagte, es sei in Ordnung. Trotzdem fühlte ich mich schlecht für die Lüge, die ich ihr einfach so erzählt hatte. Immerhin hatten wir einen neuen Termin ausgemacht – dieses Mal sogar in echt. Wir hatten uns vorgenommen, uns am Montag um 13 Uhr in dem Café zu treffen, in dem ich öfters war und lernte. Jonathan würde vielleicht auch dazukommen, wenn seine Vorlesung über Astrophysik vorbei war.

»Ich bin jetzt zu Hause angekommen und lerne«
- 14:12 Uhr

»Sehr gut... Wenn ich dir beim Lernen irgendwie helfen
kann, dann sag bitte Bescheid 😊«
- 14:20 Uhr

Ich fühlte mich ein wenig schlecht dafür, dass ich Masha erst knapp eine Stunde nach meiner Ankunft zu Hause geschrieben habe, dass ich angekommen war. Und auch dafür, dass ich ihre Nachricht acht Minuten nach meiner nicht gelesen hatte, weil ich mein Handy sofort wieder zur Seite gelegt hatte, um zu lernen. Ich las seit etwas mehr als einer halben Stunde in einem der Bücher, welches ich mir in der Bibliothek ausgeliehen hatte. Der Kalte Krieg. Hochinteressant, aber ebenso bedrückend war es, darüber zu lesen.
Es dauerte ungefähr eine halbe Stunde, bis ich mich gedanklich nicht mehr in den späten 70er Jahren in der Sowjetunion aufhielt, sondern in der Gegenwart, im Hier und Jetzt. Ich legte das dünne Buch, welches ich zur Hälfte durchgelesen hatte, zur Seite und ging von meinem mit Büchern überfüllten Schreibtisch zu meinem Bett. Ich ließ mich auf die weiche Matratze sinken - die Gedanken kamen sofort in meinen Kopf. Irgendwie vermisste ich Masha jetzt schon. Das war echt nicht mehr normal und mir war klar, dass ich viel mehr für sie empfand als bloße Sympathie. Ich liebte sie - ich liebte sie wirklich sehr. Und die ganze Zeit über fragte ich mich schon, ob sie das merkte und wenn ja, was sie dachte und ob sie es erwidern würde. Was wäre, würde ich sie küssen? Verdammt, ich dachte über so etwas nach.
Ich war eindeutig hoffnungslos verliebt in Masha Karminsky.

***

Am Sonntag hatte ich die meiste Zeit mit Lernen verbracht und ich hatte viel mit Masha geschrieben. Jedes Mal, wenn ich eine meiner Nachrichten abschickte, war ich unendlich nervös und mein Herz schlug immer wie wild, selbst wenn es nur eine Nachricht über Lerninhalte war. Immerhin wusste ich, dass jemand da war, an den ich mich wenden konnte, wenn ich mit dem Lernen Probleme hatte. Ab 19 Uhr endete unsere Konversation per Chat jedoch abrupt. Wahrscheinlich hatte sie aber einfach viel zu tun, beruhigte ich mich, bevor überhaupt Gedanken aufkommen konnten, die mir einredeten, ich hätte etwas Falsches getan.
Auch, wenn ich am Montag noch keine Vorlesungen hatte, nahm ich mir vor, etwas früher schlafen zu gehen und nicht wie in den letzten eineinhalb Wochen bis um Mitternacht an meinen Büchern zu sitzen und zu lernen und zu lesen. Was mir aktuell Schwierigkeiten machte, waren die Sprachen - Unterschiede zwischen polnischen und tschechischen oder russischen und weißrussischen Wörtern waren nicht selten minimal und wenn es dann dazu kam, wo diese Wörter ihre Herkunft hatten, wurde es ganz kompliziert. Mich interessierte es, das war keine Frage, schließlich hätte ich mich sonst im Leben nicht dazu entschieden, Slawistik zu studieren, aber die Sprachen waren schwer, auch für mich, die fast vier Jahre lang Russischunterricht in der Schule hatte.
Ich starrte auf einen leuchtend grünen Post-it am Rand meines Buches. Dabei merkte ich erst, wie müde meine Augen waren. Vielleicht lag es aber auch daran, wie fieberhaft ich schon seit Sekunden versuchte, den Unterschiede in der Herkunft und der Aussprache von народ im Russischen und народ im Weißrussischen herauszuarbeiten. Zwei unterschiedliche Sprachen - dasselbe Wort. Ich seufzte und entschied mich um kurz nach 22 Uhr dazu, das mit dem Lernen für heute zu lassen.
Als ich von meinem Schreibtischstuhl aufstand, merkte ich erst, dass ich seit dem Mittag Dinge wie Essen und Trinken vernachlässigt hatte. Mir war ein wenig schwummrig und mein Kopf tat weh. Ich musste erst einmal klarkommen, weswegen ich mich mit erst holprigen, dann aber schnellen Schritten auf den Weg zur Küche machte, um ein Glas Wasser zu trinken und im Kühlschrank nachzusehen, was es noch Essbares gab.
Mit einem großen Glas mit Leitungswasser in meiner zitternden linken Hand saß ich auf der Fensterbank meiner winzig kleinen Küche. Ich sah aus dem Fenster auf die dunkle Straße hinaus und dachte nach. Über alles Mögliche. Das Lernen, das Studium, meine Freunde, meine Noten und nicht zuletzt dachte ich auch an Masha. Wieso auch nicht - seit etwa drei Tagen drehte sich die Hälfte meiner Gedanken ausschließlich um diese wunderschöne Frau mit den roten Haaren.
Durch den halben Liter Wasser, den ich nun zu mir genommen hatte, verschwand mein Schwindel ziemlich schnell, worüber ich sehr froh war. Schwindel war nämlich schrecklich - ich hasste dieses Gefühl, ich hatte es schon oft genug, wenn ich in Panikattacken und Flashbacks geriet.
Im Kühlschrank sprang mir sofort der Rest des Salats, den ich mir zum Mittag gemacht hatte, ins Auge. Sonst war der Kühlschrank aber auch relativ leer und ich zwang mich selbst dazu, mich am nächsten Tag unbedingt wieder zum Einkaufen zu bekommen. Ich hasste diese Aktion, aber irgendwie musste ich meine Lebensmittel besorgen, weswegen ich wahrscheinlich nie drumherum kommen werde - zumindest nicht bei Essen.
Während des Essens machte ich es mir auf meinem Bett gemütlich. Und nachdem ich immer wieder zu meinem Schreibtisch gesehen, an народ und народ gedacht und mich gefragt hatte, wie ich das alles in mein Gehirn reinbekommen soll, schnappte ich mir mein Handy. Masha hatte mir geschrieben. Vor fast einer Stunde. Automatisch fühlte ich mich schlecht dafür, so sehr im Lernen untergegangen zu sein, dass ich ihre Nachricht nicht sofort gelesen und beantwortet habe. Und das, was sie mir geschrieben hatte, gab mir keine guten Gefühle, mit denen ich nun den ganzen Abend über alleine sein musste.

»Hey, Elisabeth
Wäre es möglich, wenn wir uns morgen kurz mal treffen?
Es gibt etwas, worüber ich mit dir gerne reden würde"
- 21:29 Uhr

In mir kam ein ungutes Gefühl auf, welches direkt auf meinen Magen schlug. Auch am Handy zu sein tat mir in diesem Moment scheinbar nicht besonders gut, weswegen ich mich dazu entschied, so bald wie möglich schlafen zu gehen.

»Hey,
ich werde morgen mal gucken, ich habe
erst ab etwa 16 Uhr Zeit, aber sicher ist es möglich...«
- 22:16 Uhr

Nach dem Abschicken starrte ich die Nachrichten mehrere Sekunden lang an. Dabei spürte ich in meinem ganzen Körper, wie mein Herz ziemlich schnell schlug. Ich war eindeutig nervös - vielleicht hatte ich sogar eher Angst vor dem, über das Masha mit mir reden wollte.

»Irgendwie habe ich jetzt ein bisschen Angst 🥲«
- 22:17 Uhr

Mit dem gequält lächelnden Emoji versuchte ich, ein bisschen heiter zu bleiben. Ich hatte nämlich irgendwie den Eindruck, ich hätte es noch schlimmer gemacht, hätte ich ebenfalls trocken geantwortet. Mit einem seltsamen Gefühl im Herzen stand ich schließlich auf, um meine Schüssel in die Küche zu bringen und endlich mal den Geschirrspüler anzumachen.
Und nachdem ich gefühlt eine halbe Ewigkeit lang auf sozialen Medien, für die ich mich eigentlich kaum interessierte, herum gescrollt hatte, holte mich das Vibrieren meines Handys aus meinen Gedanken. Ich war nicht nur ziemlich erschrocken darüber, dass es mittlerweile bereits 00:19 Uhr war, sondern auch darüber, dass ich eine Nachricht erhalten hatte. Niemand schrieb einfach so um kurz nach Mitternacht, dachte ich. Jonathan schlief oder lernte, Anna war mit Sicherheit auch schon längst im Bett und sonst hatte ich zu kaum jemanden engen Kontakt. Fast automatisch öffnete ich die Nachricht. Es war Masha.

»Es ist alles gut, du musst keine Angst haben 😊
Es geht um nichts Schlimmes und du kannst auch
Nein sagen, wenn dir das lieber ist...«
- 00:19 Uhr

Irgendwie kam sofort ein Lächeln in mein Gesicht. Masha war noch online, theoretisch hätte ich ihr sofort zurückschreiben können, aber erst einmal musste ich ihre Worte verarbeiten. Es war nichts Schlimmes. Aber sie wollte reden.

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