𝟎𝟒 | 𝐍𝐞𝐮𝐚𝐧𝐟𝐚𝐧𝐠.

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Resigniert seufzte ich auf und gab nun doch nach.
Gab nun doch nach, indem ich ihm fest in die Augen sah und dadurch beinahe erschrocken zusammenzuckte.
Diese ganzen starken Emotionen, die ich nur mühevoll zurückhielt, schienen genauso auch in ihm gefangen zu sein – und ich wusste plötzlich, dass er aus seiner Perspektive wirklich die Wahrheit sagte.

Er hatte mich nie verletzen wollen, natürlich nicht.
Trotzdem hatte er es getan und ich war ein Mensch, der nie vergaß und in der Regel nicht verzieh. Ich glaubte nicht an zweite Chancen, nicht, wenn man die eigentliche derart dumm verspielte.

„Das mag ja sein, aber ob du es glaubst oder nicht: Für mich fühlt es sich genau danach an. Weißt du, ich habe dich jetzt drei Jahre nicht gesehen, nichts von dir gehört. Ich wusste nicht einmal, ob du überhaupt noch lebst und wenn, ob in Freiheit oder hinter Gittern. Das erste Jahr habe ich versucht, es einfach zu verdrängen, danach wollte ich dich hassen und dann war es mein Ziel, dich nur noch zu vergessen. Aber es hat nicht funktioniert und jetzt stehst du vor mir und verlangst, so zu tun, als wäre nie etwas passiert?!“, kopfschüttelnd fuhr ich mir durch die Haare und sah ihn auffordernd an, verlangte nach einer Wiedergutmachung, auch wenn ich wusste, dass Andrés es mir mit nichts recht machen könnte.

Er reagierte enttäuschend. Und zwar, indem er sich räusperte und ein gequältes „Laia“ flüsterte.

„Hör mal“, unterbrach ich ihn mit bebender Stimme. „Das Maximum, das du von mir noch erwarten kannst, ist Folgendes: Ab morgen sind wir Fremde. Du kennst mich nicht und ich habe gleichermaßen noch nie von dir gehört. Du wirst weder meinen Namen nennen, noch versuchen, anderweitig an irgendetwas anzuknüpfen, und ich werde auf dieselbe Weise handeln. Wir werden so tun, als würden wir uns zum ersten Mal sehen und vollkommen neu kennenlernen. Damit ignoriere ich, was du mir angetan hast, und wir haben beide sowas wie einen Nullpunkt“.

„Vergiss deinen Nullpunkt, mich interessieren die Regeln meines Bruders nicht. Du bist meine beste Freundin, ich werde garantiert nicht so tun, als sähe ich dich da die erste Sekunde, das kann ich nicht“, widersprach Andrés mir so überzeugt, dass ich vor lauter Ironie fast trocken auflachte.

„Oh doch, das kannst du. Wir waren einmal etwas, das ich als ‚beste Freunde‘ bezeichnete, aber das war quasi in einem anderen Leben. Du bist doch sonst immer so beherrscht, von daher reiß dich zusammen und sieh mich bloß nicht auf die Weise an, wie du es gerade tust“.

„Es war ein Fehler“, er ging nicht auf mich ein – da war es mir auch egal, dass er zum ersten Mal, seitdem wir uns damals im „Alten Museum“ begegnet waren, sich bewusstwurde, dass er nicht immer im Recht lag.

„Das war es“, stimmte ich ihm dennoch zu.

„Du weißt, wie schwer es mir fällt, mir Schwächen einzugestehen“.

„Du wagst es, die Mitleidsschiene zu fahren? DU?“, ungläubig schnaubte ich Andrés ins Gesicht und schüttelte den Kopf. „Hör jetzt auf damit. Es sollte nur in deinem Sinne sein, dass ich dich ab morgen nicht mehr für jede Kleinigkeit anschreien kann“.
Damit drehte ich mich um und marschierte von dannen.

Zumindest hatte ich das vor, denn im nächsten Augenblick spürte ich eine Hand um meinen Arm und er zog mich bestimmt nahe zu sich.
„Du willst mich also leiden sehen?“, murmelte er mir ins Ohr.

Verärgert riss ich mich los und trat einen Schritt nach hinten.
„Kein Wunder, dass es bei deinen Psychospielchen keine deiner Frauen bei dir ausgehalten hat. Du bist absolut widerlich, wenn dir etwas nicht passt. Ich will dich nicht leiden sehen, ich möchte, dass du ab morgen deine Rolle als steinharten, herzenskalten Anführer so gut mimst, dass ich am besten nie für dich einspringen muss und die anderen von meiner Sonderstellung erfahren“, das stimmte. Ich hatte nicht die entferntesten Ambitionen, irgendwann zum Kopf der Gruppe aufzusteigen. Nicht, weil ich nicht gerne im Zentrum der Aufmerksamkeit stand, sondern da ich mir vorstellen konnte, wie später in der Banknotendruckerei auch die Stimmung in unseren Reihen kippen würde, und ich nicht die Zielscheibe aller Schuldzuweisungen werden wollte.

Natürlich schaffte Andrés es nicht.
Weder den emotionslosen Boss zu spielen noch unsere Vergangenheit zu ignorieren.

Nur mit allergrößter Anstrengung konnte ich mich davon zurückhalten, am nächsten Tag in unserer ersten Unterrichtseinheit aufzuspringen und ihm theatralisch eine zu klatschen.
Gerade hatte er sich als ‚Berlin‘ vorgestellt und besaß jetzt die Unverschämtheit, mich quer durch das Zimmer bedeutungsschwanger anzugrinsen.

Ich verstand es als reine Provokation, meine Komplizen, die sich bereits zu ‚Denver‘ und ‚Rio‘ umgetauft hatten, vermutlich ganz anders, wenn ich die Blicke, die sie immer und immer wieder zwischen uns hin- und herwarfen, richtig interpretierte.

Als Andrés sich bloß noch mehr amüsierte, nachdem ich meine Augen verdreht hatte, hielt ich es nicht mehr aus.
Wie konnte er nur?!

„Was ist? Habe ich etwa Deutschlandflaggen im Gesicht?“, fragend runzelte ich meine Stirn und er – nun gut – schmunzelte weiterhin, ehe er sich dazu entschied, etwas kühler zu wirken.
„Nein, aber ich habe so ein Gefühl, dass dir diese Stadt ziemlich wichtig ist“.

„Ach ja? Dann muss ich dich wohl enttäuschen – dein Gefühl trügt“, erwiderte ich gelassen, sah kurz seine Gesichtszüge entgleisen, und gestattete nun mir ein leichtes Grinsen.
Bis ich Sergio sah, der missbilligend erst seinen Bruder und anschließend mich musterte.

Señorita, bitte“, forderte er also mich auf, mir einen Namen auszusuchen, und versuchte auf diese Weise, die Situation vor dem Hochschaukeln zu retten.

„Venecia“, ein leises Husten unterbrach mich in meiner wundervollen Vorstellung – Andrés.
Feixend schaute ich in seine Richtung.
„Berlin? Ich hoffe doch, ich habe damit keine alten Wunden in dir aufgerissen? Vielleicht ist dir ja meine Stadt in irgendeiner Hinsicht wichtig?“

Ich wusste, eigentlich war das, was ich gerade tat, genau das, was ich hatte vermeiden wollen. Doch wenn er mich provozierte, hatte ich wohl umgekehrt dasselbe Recht dazu!

„In der Tat. Ich-“
„Nun“, wurde er vom ‚Professor‘, Sergio, unterbrochen. Der Arme schien schon in diesem Moment überfordert mit uns beiden… hätte er sich aber davor denken können! „Da wir uns jetzt alle ein wenig kennengelernt haben, können wir uns auf das Wesentliche konzentrieren: Die Staatliche Banknotendruckerei“.

Damit hatte er wieder die Aufmerksamkeit der ganzen Bande, verteilte die Aufgaben und erklärte das grobe Grundgerüst seines Plans.

››› „Venedig also?“, nach der Stunde fing Andrés mich auf dem Gang ab.

„In der Tat“, zitierte ich ihn.

„Wie war das doch gleich? Keine gemeinsame Vergangenheit?“, selbstzufrieden grinste er mich an.
Warum, war mir schleierhaft.

„Richtig. Und im Gegensatz zu dir habe ich mich auch darangehalten. ‚Berlin‘, ich bitte dich! Soll ich mich etwa geehrt fühlen?“

„Die ‚Stele Giustiani‘ sagt dir nichts mehr, möchtest du behaupten?“, stellte er mir lieber eine Gegenfrage.

Ironisch lachte ich auf.
„Das hätte ich ahnen müssen. Für wie wichtig hältst du dich eigentlich, mhh? Als Person, die kulturell eigentlich so gebildet ist, müsstest du verstehen, warum Venedig für mich – abgesehen von unserer gemeinsamen Mission – derart viel an Bedeutung hat. Von dort aus hat sich meine Stilrichtung überhaupt erst ausgebreitet. Venecia war das erste Opernzentrum, erinnerst du dich?“

„Warum dann nicht ‚Florenz‘? Die Florentiner Camerata leisteten den ursprünglichen entscheidenden Beitrag“, er und seine ewige Selbstherrlichkeit!

„Das hättest du genauso auf dich und dein Kloster interpretiert. Das sogar meine Idee war“, schon wieder verstieß ich gegen mein eigenes Vorhaben.

„Erkläre es mir – da ist es in vertraulichen Händen. Warum liegt dir ‚Berlin‘ so sehr am Herzen?“, wechselte Andrés aus heiterem Himmel das Thema.

𝐕𝐄𝐍𝐄𝐂𝐈𝐀 | Lᴀ ᴄᴀsᴀ ᴅᴇ ᴘᴀᴘᴇʟ Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt