„Professor“, angespannt lehnte ich mich gegen den Türrahmen und wartete darauf, dass Andrés und er sich zu mir drehen würden.
Es gefiel mir überhaupt nicht, dass er sich ein kleines Büro ausgesucht hatte, in dem er mich sprechen wollte, denn dadurch kam ich mir vor, als wäre ich in einer Mausefalle.
„Venecia“, knapp nickte er mir zu, wandte sich aber direkt wieder an seinen Bruder. „Berlin, geh zu den anderen und sag ihnen, dass wir mit dem Herausschaffen des Geldes beginnen werden. Und mach hinter dir zu“.
Wie bitte? Sergio würde mit mir unter vier Augen sprechen?
Ich freute mich ja über seine Aufmerksamkeit, aber mein Bedarf, mit ihm allein zu sein, hielt sich dann doch stark in Grenzen.„Pro-“, fing auch Andrés das Diskutieren an, wurde allerdings direkt von einer scharfen Handbewegung abgewimmelt und auf den Gang geschickt.
Wehmütig sah ich ihm hinterher, aber der Professor ließ mir nicht lange Zeit, darüber nachzudenken, wie viel lieber ich in trauter Zweisamkeit mit ihm sein würde, und riss mich mit einem ungeduldigen Räuspern aus meinen Gedanken.
Also fokussierte ich ihn, der wiederum mich ungeduldig musterte, als würde er erwarten, dass ich etwas sagen würde.„Du wolltest mich sprechen?“, fragte ich gelangweilt. Nicht, weil ich wirklich gelangweilt war, sondern weil ich wusste, wie sehr ihn das aufregen würde.
War er tatsächlich der große Anführer, den das Team in ihm sah, würde er sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen lassen und seine Autorität mir gegenüber demonstrieren können.„Ich wollte dich sprechen und von dir hören, was du vorschlägst“, fahrig schob er sich seine Brille ein wenig nach oben und wirkte dabei deutlich eher wie ein zerstreuter Professor als ein Genie, das diesen gesamten Überfall geplant hatte.
Leicht schmunzelte ich. Ich verstand genauestens, worauf er sich bezog, allerdings würde ich mir garantiert keine Strafe für mich selbst und meinen ‚Fehler‘ bei Arturito überlegen.
„Ich glaube, die beste Idee wäre, dass du wieder zurück in deinen Hangar gehst und zusiehst, dass du deinen Beobachtungsposten einnimmst, damit nicht noch ein Regelverstoß passiert“.
Entrüstet schnappte Sergio nach Luft.
„Dir ist klar, dass ich von dir hören will, was du als angemessene Konsequenz für deine unverzeihliche Tat betrachtest. Du hast am wenigsten von allen einen Grund dazu, mich nicht ernst zu nehmen!“Ich zuckte gleichgültig mit meinen Schultern.
„Das denke ich nicht. Du hast keine Ahnung, wie das ist, hier drinnen zu sein. Du hockst nämlich nur in deinem dunklen Loch und schaust uns zu, als wären wir ein Fußball-Livestream. Wenn überhaupt. Manchmal bist du sogar nicht mal dazu fähig und dann läuft es eben einmal aus dem Ruder. Du hast am wenigsten von allen einen Grund dazu, mich bestrafen zu wollen. Denn du hättest nur im Nachhinein erfahren, dass einer deiner Leute von einer Geisel erschossen wurde. Außerdem hast du mich überhaupt erst dazu überredet, bei diesem Überfall mitzumachen, das war garantiert nicht meine Idee“, erklärte ich ihm ruhig und beobachtete innerlich höchst amüsiert, wie er seinen Mund öffnete, nur um ihn im nächsten Augenblick wieder zuzuklappen.„Hilf den anderen, das Geld zu verpacken. Wir beide sind noch lange nicht fertig“, angesäuert zog er die Bürotür auf und verschwand.
„Natürlich nicht“, murmelte ich belustigt und machte mich auf die Suche nach meinen Komplizen.
Summend lief ich die Gänge entlang und sprang vor Schreck gefühlte zwei Meter in die Höhe, als mich plötzlich eine Hand packte und in ein abgedunkeltes Zimmer zog.„Was soll das?“, zischte ich und versuchte angestrengt, meinen Herzschlag zu beruhigen, nachdem ich Andrés‘ bekannten Duft eingeatmet hatte.
„Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass mein Bruder länger mit dir allein war als ich“, wisperte er mir rau ins Ohr und hauchte mir einen sanften Kuss auf die empfindliche Stelle dahinter. „Was hat er gesagt?“
Vorsichtig drückte ich ihn ein Stück zurück, damit ich mich auch nur annähernd konzentrieren konnte.
„Er hatte vor, mir die Leviten zu lesen, aber ich fürchte, ich habe versehentlich den Spieß umgedreht“, fasste ich den wesentlichen Kern zusammen und hörte sein amüsiertes Lachen.„Und deine Bestrafung?“
„Es gibt keine. Soweit kam er zumindest nicht. Er wollte mich selbst reflektieren lassen und ich war kurz davor, ihm vorzuschlagen, deinen Plan mit der Goldreserve umzusetzen, wofür ich ihm den besten Kunstfälscher überhaupt besorgen könnte, aber da war er schon wieder weg“, Andrés‘ leises Glucksen schwoll mit jedem meiner Wörter mehr an, bevor er sich am Ende überhaupt nicht mehr zurückhalten konnte.
„Er wird dich hassen“.
„Er wird mich noch viel mehr hassen, wenn ich seine letzte Anweisung auch missachte und nicht helfe, das Geld hier rauszubringen“, war meine trockene Feststellung und so schwer es mir auch fiel, nahm ich seine Hand und führte ihn aus dem schönen, kleinen Zimmer.
Angestrengt blinzelten wir in das grelle Licht des Gangs und wurden beinahe von Nairobi über den Haufen gerannt, die völlig außer Atem durch die Gegend sprintete.
„DA seid ihr! Berlin, wir müssen unbedingt die Geiseln freilassen und verschwinden! Sie stürmen!“Die nächsten Minuten vergingen wie in zehnfacher Geschwindigkeit.
Wir versammelten alle Gefangenen in der Lobby, verabschiedeten sie mit nichtigen Floskeln und ließen sie vor die Banknotendruckerei strömen.
Wir trampelten die Treppen hinunter zu unserem Fluchttunnel, Denver mit seiner blonden Geisel im Schlepptau.
Wir verschwanden alle nach und nach in Richtung Professor, bevor nur noch Nairobi, ‚Berlin‘ und ich übrig waren und wir bereits irgendwo im Hintergrund das Spezialkommando hörten.Meine Freundin und ich redeten ununterbrochen auf Andrés ein, der hier als Einziger zurückbleiben wollte, bis er Helsinki dazu zwang, Nairobi wegzubringen und mich eigenständig zum Tunneleingang trug.
„ICH HASSE DICH!“, hallte das Echo unserer Komplizin immer entfernter zu uns und ich unterschrieb es an der Stelle mit Freuden.
Ich hasste ihn ebenfalls dafür, dass er auch nur daran dachte, mich zu den anderen zu schicken.„Vergiss es“, fauchte ich ihn an und es durchfuhr mich siedend heiß.
Ob es das Verlangen war, ihm den Hals umzudrehen oder mich ihm um den Hals zu schmeißen und ihn nie wieder loszulassen, das wusste ich nicht.„Es ist jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um unvernünftig zu sein, Venecia“, redete er doch tatsächlich auf mich ein und schob mich noch ein wenig näher zum Abgrund.
„Nein, ist es nicht. Nicht einmal für den großen Andrés de Fonollosa“, erwiderte ich und stemmte mit aller Macht und unterdrückter Panik meine Füße in den Boden.
„Es ist vernünftig, dich in Sicherheit wissen zu wollen. Bitte geh!“, flehend schaute er zu mir herunter und ich konnte in seinen Augen die Tränen glitzern sehen. Er ging genauso wenig wie ich davon aus, dass er es allein noch lebend herausschaffen würde, und wusste, dass wir uns jetzt das letzte Mal auf dieser Seite begegneten.
„Untersteh dich! Untersteh dich, mich noch einmal allein zu lassen!“, rasend vor Zorn und Angst durchbohrte ich meinen idiotischen, egozentrischen, wundervollen Freund mit meinem Blick. „Du wirst mir nicht schon wieder mein Herz brechen! Und du wirst erst recht nicht über mein Leben bestimmen. Du hast gesagt, du willst ein weiteres Mal mit mir nach Berlin. Das kann ich nur mit dir zusammen machen. Deine einzige Chance, hier lebend herauszukommen, bin ich. Also hör auf mit dem Schwachsinn und-“
Und küss mich. Aber das musste ich nicht mehr aussprechen, denn schon spürte ich seine Lippen auf meinen und das mit solch einem Verlangen, dass es mir wortwörtlich den Atem raubte und ich es auch Minuten später noch fühlte, als unzählige Laserstrahlen auf uns zielten.
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𝐕𝐄𝐍𝐄𝐂𝐈𝐀 | Lᴀ ᴄᴀsᴀ ᴅᴇ ᴘᴀᴘᴇʟ
FanfikceZwei Menschen, die die Aufmerksamkeit lieben. Zwei Menschen, jahrelang unzertrennlich. Zwei Menschen, auseinandergegangen wegen eines „Verrates". Und nun der größte Überfall, der jemals in die Geschichte eingehen und diese zwei Menschen wieder zuein...