𝟑𝟎 | 𝐏𝐚𝐫𝐚 𝐬𝐢𝐞𝐦𝐩𝐫𝐞.

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´´´´´´´´´´ Provinz Salerno, Italien. Pisciotta. ´´´´´´´´´´
´´´´´´´´´´ Unbestimmte Zeit nach dem Überfall. ´´´´´´´´´´

„VENECIAAA!“, Nairobis und Tokios Begrüßungsruf vermischte sich mit dem lauten Kreischen des Geiers, der seine regelmäßigen Runden über das kleine italienische Bergdorf zog.
Stirnrunzelnd beobachtete ich den Raubvogel, der auf seiner Suche nach Aas das Bild der Harmonie trübte, das sonst den Alltag hier bestimmte.

„VENECIAAA!“, ein weiterer Schrei riss meine Aufmerksamkeit endgültig auf sich – meine Freundinnen, die, unsere restlichen früheren Komplizen im Schlepptau, einige Höhenmeter weiter oben auf den provisorischen Stufen standen, über die man von dem Dorf direkt zum Meer geführt wurde.

Wie verrückt winkten sie zu mir hinunter und führten einen albernen Tanz auf, den ich schmunzelnd imitierte.

„Soll das etwa dein Hochzeitswalzer werden?“, hörte ich aus etwas Entfernung Andrés‘ belustigte Stimme. Grinsend drehte ich mich zu ihm und beobachtete, wie er zwei Flaschen Wein auf dem Tisch abstellte.

„Das ist der Freestyle-Walzer, das soll modern sein“, erwiderte ich amüsiert, schüttelte aber sogleich meinen Kopf und deutete mit dem Kinn in die Richtung unserer Gäste. „Sie sind da“.

„Sie sind da und mit ihnen ist die Ruhe weg“, skeptisch folgte er meinem Blick und zog seine Brauen zusammen, als Nairobi und Tokio gackernd den Professor zwischen sich zogen und ihn mit zu uns schleppten.

Leise lachte ich auf und stieß ihm vorsichtig meinen Ellbogen zwischen die Rippen. „Sei doch nicht so spießig!“
Innerlich jedoch stimmte ich ihm zu. Mit dem Team um uns herum, blieb wenig Zeit für Zweisamkeit, und obwohl ich die anderen gernhatte, stand mir momentan wenig der Sinn nach Geselligkeit.

Wehmütig betrachtete ich die Zypressenbäume, die sanft im Wind hin- und herwiegten, deren Rauschen wir sonst durchgängig hörten und dadurch herunterkamen, uns geborgen fühlten. Jetzt allerdings wurde es übertönt von unseren Komplizen, die lautstark auf uns zuliefen und uns in der nächsten Sekunde in eine Gruppenumarmung schlossen.

Anfangs verstellte ich mich, tat so, als würde ich mich freuen, dass wir endlich wieder alle miteinander vereint waren, verdrehte aber insgeheim die Augen und konnte an Andrés‘ Lippen ein schadenfrohes ‚Spießer‘ ablesen.

Irgendwann aber realisierte ich, dass ich die Anwesenheit unserer Freunde tatsächlich genoss. Manchmal musste man zu seinem Glück wohl gezwungen werden… oder eher oftmals.

Ich dachte an die vielen Momente meines Lebens, in denen mir die positive Seite erst etwas später aufgefallen war: Velasco, der mich damals in Berlin verraten hatte, wodurch ich dann allerdings Andrés kennengelernt hatte. Der ‚Professor‘, der mich quasi in den Überfall auf die Banknotendruckerei hineingezwungen hatte. Der Tag, an dem ich erfahren hatte, dass ich nicht die einzig Kriminelle in meiner Familie war – und die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben würden.

Mittlerweile zählte ich zu meiner Familie ohnehin mehr Kriminelle als Menschen, die vorbildlich nach dem Gesetz lebten, stellte ich im Stummen fest und schmunzelte in mich hinein, während ich meinen Blick über die anderen schweifen ließ.

„Venecia“, schlagartig war ich alarmiert. Denver grinste mich quer über den Tisch hinterlistig an und ich bekam das Gefühl, gleich ein übles Déjà-Vu zu erleben. Das letzte Mal, als ich ihn in einem ähnlichen Rahmen gesehen hatte, hatte er mir die einzig übriggebliebene Waffel vor der Nase weggeschnappt.

„Was?“, fragte ich ihn misstrauisch, doch er zuckte nur mit den Schultern, behielt weiterhin sein überhebliches Lachen bei und deutete nach einigen Sekunden mit seinem Kinn auf meinen Teller.

Sein mühevoll herausgebrachtes „Sieh mal“ bekam ich gerade noch am Rande mit, denn mein Fokus galt längst Nairobi, die mich unschuldig anzwinkerte.

„Dein Ernst?“, angeekelt verzog ich mein Gesicht. Sie hatte mir eine extra große Portion eines Salats mit den essbaren Nieren zugedacht, vermutlich irgendeine Andeutung auf unsere Vorbereitungszeit. Oder eine unterschwellige Rache für das, was ich ihr alles während des Überfalls angetan hatte.

„Ber-“, geschickt und in weiser Voraussicht hatte Andrés unter dem Tisch sein Bein weggezogen, dass ich ihn nicht unauffällig treten konnte. An seinen zuckenden Mundwinkeln merkte ich genau, dass er nicht vorhatte, mir aus dieser Situation herauszuhelfen. Über das ‚Wie in schlechten Zeiten‘ mussten wir später unbedingt nochmal reden!

„Ich fürchte, da musst du jetzt durch“, kommentierte Tokio feixend meinen misslungenen Rettungsversuch.
Augenverdrehend sah ich auf meinen Teller, auf dem die Bohnen von Sekunde zu Sekunde unappetitlicher wirkten – waren sie sonst wenigstens von einer weinroten Farbe, so machten sie auf mich jetzt eher den Eindruck von verformtem Schlamm.

„Wie wäre es, wenn du die bösen Gedanken einfach wegtanzen würdest?“, dass auch Rio mir noch in den Rücken fallen könnte, hätte ich nicht erwartet!

„Ich hasse euch“, murrte ich halbherzig und schaufelte mir unter kollektivem Gejohle eine volle Gabel in den Mund.

Innerlich entwickelte ich einen Plan, wie ich ihnen allen das später noch heimzahlen würde, deshalb fiel es mir nicht schwer, nach außen plötzlich überzeugt von dem wundervoll ekelhaften Geschmack zu sein.
Lächelnd schob ich einen Happen nach dem nächsten zwischen meine Zähne und klopfte mir am Ende zufrieden auf den Bauch.

Danach brauchte ich etwas Bewegung, um die Verdauung anzuregen, und wie ginge das besser als mit einem Strandspaziergang?
Unter dem Vorwand nahm ich mir die Turteltäubchen Tokio und Rio zur Seite.

Ich kannte die kleine Bucht gut genug, um zu wissen, wo man die schönsten Muscheln finden und wo man die buntesten Fische beobachten konnte – und ich kannte die beiden gut genug, um zu wissen, dass das aufgrund von Erinnerungen ihre kleineren wunden Punkte waren.

„Du… dir kann man echt nichts erzählen“, anklagend starrte meine Freundin wie erwartet wenige Zeit später auf den sandigen Boden, dann zu mir und schließlich zu Rio, der gedankenversunken auf das Meer hinaussah.

„Dir auch nicht“, gab ich schmal grinsend zurück, nahm sie aber gleich darauf in den Arm. „Sieh es mal so: Jedes vergangene Leben hinterlässt etwas Schönes. Er hat das getan, indem er dir die ganzen Erinnerungen geschenkt hat – und die Muscheln als konkreten Gegenstand. Vielleicht sollen dich die Muscheln hier jetzt daran erinnern, weiterzuleben und neue, schöne Erinnerungen mit Rio zu sammeln“.

Ich hatte einmal gehört „Das Gedächtnis ist die Schatzkammer des Geistes, in der seine Denkmäler aufbewahrt und erhalten werden“ und diesen Satz würde ich niemals vergessen. Dieser Satz hatte mir schon oftmals neuen Mut gegeben, mich nicht verzweifeln lassen. Dieser Satz war mir vorhin in den Sinn gekommen, als ich mich mit Tokio unterhalten hatte und dieser Satz ließ mich auch jetzt nicht los, als ich, an Andrés gelehnt, den Himmel beobachtete, an dem dunkle Wolken aufzogen und den sonst so einladenden Strand in düsteres Licht hüllten.

„Da braut sich etwas zusammen“, stellte ich fest und beobachtete beunruhigt unsere Gäste, die in ihrer heiteren Stimmung von dem Wetter nichts mitbekommen zu schienen.

„Hast du Angst?“, hörte ich seine Stimme, gerade als ich gedacht hatte, da würde keine Reaktion mehr kommen.
Vermutlich wäre auch nichts mehr gekommen, hätte nicht meinen Körper in diesem Moment ein Zittern durchzogen.

Unschlüssig drehte ich mich so, dass ich ihm in die Augen schauen konnte und sofort meine Antwort bekam: Nein, hatte ich nicht, solange ich bei ihm war.
„Jetzt nicht mehr“, wisperte ich, während ich mich zu ihm hochstreckte.

„Das ist gut, denn auf uns kommt noch einiges zu“, stirnrunzelnd schielte Andrés gen Himmel, bevor er unsere Lippen zu einem sanften Kuss verschmelzen ließ.

Ein Ruck durchfuhr uns beide – in Überraschung drehen wir uns zu unseren restlichen, etwas verschwommen wirkenden Komplizen, die in irgendein Spiel mit Sanduhr, die beinahe vollständig durchgelaufen ist, vertieft sind.

Leicht lächelnd hält mein Freund mir seine Hand entgegen, die ich auf dieselbe Weise ergreife.

„Es wird Zeit“.

[EL FIN.]

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